90 IST VIEL MEHR ALS 100

(Mit dem Psychiater im Val Dogna)

von Hansi Mikl

Weil der herkömmliche Wellness-Herbsturlaub des forensischen Psychiaters die geringe Chance auf Beinehochlegen in ausgewiesenen Wohlfühlwelten zumindest diesmal längst verspielt hat, habe ich mir schon vor längerer Zeit melancholisch hochwertige, fast menschenleere Touren an entlegene Orte als Sonderform einer Urlaubstherapie ausgedacht. Im Ernst: Ist es nicht irgendwie ziemlich merkwürdig, dass sich ziemlich viele Erholungssuchende für ziemlich viel Geld gleichzeitig in die deshalb ziemlich überfüllten Ruhezonen sogenannter Wellness-Oasen flüchten, um dort Ruhe zu finden ? Das verstehe, wer will….

Auf unserem Speisezettel steht diesmal das Val Dogna im benachbarten Friaul. Was dort garantiert scheint, sind Abgeschiedenheit und Stille, denn im Val Dogna befindet sich der Mensch auf dem geordneten Rückzug. In diesem Tal gibt es nur steile Hänge, an denen zumindest auf der sonnigen Nordseite noch einige wenige alte Weiler mit so fremdartigen Namen wie Chiout di Puppe, Chiout di Gus, Mincigos, Chiout Zucuin oder Pleziche kleben. Einzige und letzte Lebensader ist eine fast 20 Kilometer lange, abenteuerliche Bergstraße, die ihre Entstehung den brachialen Kampfhandlungen des 1. Weltkriegs verdankt. Am tiefsten Punkt kämpft sich der Torrente Dogna verbissen durch ildefonsoartige Gesteinsschichten, während ihm die dauernde Erosion

ständig neue Zusatz-Arbeit beschert. Darüber meist senkrechte, spektakuläre Nordwände. Melancholie- und Gänsehaut-Garantie auf ganz hohem Niveau.

Leicht verspätet starten wir in einen jahreszeitlich klar akzentuierten nebelgrauen Morgen und bunkern unterwegs schnell und traditionell bei Billa Reiseproviant. Die Autobahn bringt uns rasch nach Tarvisio, von dort geht es auf der alten Bundesstraße weiter, ab Valbruna  strahlt als willkommene Stimmungsaufhellerin die späte Oktobersonne von einem wolkenlosen, stahlblauen Himmel. Das milde Herbstlicht schönt die mitunter etwas trostlosen Ortschaften im Canal del Ferro ein wenig, auch Dogna hat zwar selten gute, aber garantiert schon bessere Zeiten erlebt. Von den einst 18 Ortschaften der Gemeinde sind gerade noch 12 bewohnt, die Zahl der Einwohner ist von früher 1500 dramatisch auf aktuell 220 gesunken. Die Jungen wandern in Ermangelung von Arbeitsplätzen und Perspektiven ab, die Alten halten auf kleiner Flamme und verlorenem Posten die Stellung.

Bald schon kämpft sich der Citroen über die Serpentinen der Bergstraße talaufwärts. Unterwegs bereits bekommt man auf Anhieb eine leise Ahnung davon, dass die Ruhe hier schon ewig lange beheimatet ist. Lediglich zwischen 1915 und 1918 dürfte es ausnahmsweise ziemlich laut gewesen sein. Die historischen Fakten werden bei unserer Ankunft in Chiout gleich mit den noch immer beeindruckenden Überresten einer (Material)Seilbahn aus diesen Tagen massiv untermauert. Wir parken fast notgedrungen unter den riesigen Betonpfeilern direkt über den Dächern des Dörfchens, sichten das Kartenmaterial und machen uns dann auf den Weg in Richtung Pleziche. Zunächst geht es komfortabel auf Asphalt bergab, nach einer kleinen Brücke über den Rio della Forchia geht es wieder mit leichter Steigung bergauf nach Pleziche. In dieser überschaubaren Häuseransammlung treffen wir einander buongiornowünschend einen alten Mann und eine freundliche schwarze Katze (damit wäre diesmal die traditionelle Rubrik „Des Doktors Faible für italienische Frauen” bereits früh am Tag aufgearbeitet), ehe es über einen schmalen Pfad endlich in die Wildnis geht. Ein klares Verbotsschild stellt weder theoretisch, noch praktisch ein nennenswertes Hindernis dar. In einem hellen Kiefernwäldchen stoßen wir auf Ruinen, deren Lage, Sinn und Hintergrund sich kaum ergründen lässt. Den tiefsten Punkt der Reise erreichen wir am und mit dem Torrente Dogna. Von nun an geht es andauernd bergauf, der zunächst erfreulich geländegängige Eindruck endet aber leider auf einer geräumigen Forststraße, die der Tour zumindest auf diesem Teilstück den Stempel einer gemütlichen Altherrenwanderung verpasst. Immerhin erlaubt die folgende Etappe nicht nur die verbale Weiterarbeit an unserem Buch „90 ist mehr als 100″, sondern auch mehr oder weniger heitere Gespräche, die durchwegs mit offenem Visier geführt werden. Gott, die Welt, die Frauen, die Kinder, die Ehe, die Menschen, die Leute und der Fußball in Theorie und Praxis. Ohne jegliche Adrenalinausschüttung überqueren wir den gerade sehr harmlosen Rio di Montasio, schlendern an einem kleinen Hochmoor vorbei und könnten schließlich auf Höhe von Plan dei Spadovai über den hier bereits ausgetrockneten Torrente Dogna zur Bergstraße auf die gegenüberliegende Talseite wechseln.

Weil aber in der Karte weiter oben auf 1440 Metern ein kleiner Bergsee eingezeichnet ist, schlägt der Psychiater dringend vor, die längst fällige Pause doch besser dort an dessen Ufer in der frühen Nachmittagssonne zu absolvieren. Warum auch nicht. Ein Stück weiter endet endlich die bequeme Forststraße und in einem steilen Pfad endet unvermutet die unerträgliche Leichtigkeit des schweißfreien Wanderns in den Mühen einer Bergtour. In etlichen Windungen geht es parallell zu einem wilden Graben böse 200 Höhenmeter anstrengend bergauf, bis wir schließlich diesen Graben queren und uns in einem fast mystischen, bereits unbelaubten Buchenwald wiederfinden, welcher sich schon bald zu einer Lichtung öffnet. Diese erweist sich mit ansatzweisen Schützengräben und einer brüchigen Bunkeranlage am Gegenhang als nicht ganz natürlich und auch die Seifenblase der sonnigen Rast am „il Laghetto” zerplatzt dann lautlos: Der fiktive See ist fast zur Gänze verlandet !!!!

Notgedrungen kriechen wir gequält lächelnd auf dem Zahnfleisch in Richtung Rifugio Fratelli Grego weiter, einer  Schutzhütte, wenigstens relativ in der Nähe auf 1389 Meter Seehöhe. Der erste Eindruck entschädigt für den Umweg: Traumhaftes Bergpanorama vor einer sonnenüberfluteten, völlig menschenleeren Südterrasse !!!! Das Fallenlassen in den erstbesten Sessel an der Hüttenwand und das instinktive Öffnen des Rucksacks zählt noch zum ersten Eindruck.

 

Schon keine Minute später hält mit dem zweiten Eindruck der urbane Alltag Einzug. Der Psychiater läuft dem einwinternden, einsamen Hüttenwirten in die Arme, der gruß- und wortlos mit eisigem Blick den dringenden Ratschlag: Haut ab !!!!….erteilt. Erschwerend zur frostigen Gastfreundschaft kommt das praktisch gleichzeitige Verschwinden der Sonne hinterm Torre Amalia hinzu. Die Sonnenterrasse wird sofort zum Kühlschrank.

Erneut verschieben wir die Pause nach hinten und stiefeln weiter zur Sella di Sompdogna. Dort campieren wir, weil temperaturmäßig eine feine Sache, auf einer sonnigen Anhöhe in der Nähe eines Denkmals, erkennen dankbar den grundsätzlichen Wert von gefüllten Rucksäcken und darüber hinaus das belebende Innehalten in so absoluter Stille. Diesen Umstand unterstreicht der Psychiater doppelt, indem er  die Frage „Hörst du was ?” mit der einzig möglichen Antwort „Du hörst NICHTS !!! Gar NICHTS !!!!” kontert. Null Dezibel, wenn man so will. Doch ehe die absolute Stille auf der Sella di Sompdogna das Tor zu neuen Gedanken vorsichtig öffnen kann…klingelt auch schon des Doktors Smartphone lautstark mit einem mutmaßlichen Requiem von Bach. „Hallo Herr Graf”, Terminabsprachen mit mindestens 40-50 Dezibel demolieren die stille Idylle. So entstehen also Anekdoten.

Nach dem Telefonat kehrt zwar die Stille zurück, aber die Ruhe ist weg, weil die Zeit wird knapp. Vor  uns liegen gut und gerne 10 Kilometer auf asphaltierter Bergstraße zurück hinunter nach Chiout. Zeitmanagementmäßig bleiben fast drei Stunden bis Einbruch der Dunkelheit. Das klingt zwar relativ komfortabel, aber weil der Weg mit seinen vielen Highlights auch als Ziel herhalten wird, schultern wir entschlossen die Rucksäcke. Bis nach Plan dei Spadovai jagt eine Serpentine die andere, dafür laufen wir ausschließlich in der milden Nachmittagssonne vor attraktiven Bergpanoramen und diskutieren dabei munter weitere (un)wichtige Themen, die beim Aufstieg irgendwie auf der Strecke geblieben sind. Wir können ungezwungen über die Beschleunigung und zunehmende Banalisierung der Gesellschaft mit ihren Facebookern und Twittern spotten, bemühen uns aber weiterhin, nicht in die Speichen dieser digitalen Laufräder zu geraten. In Plan dei Spadovai selbst finden sich trotzdem wenige Gründe, die einen längeren Aufenthalt rechtfertigen. Die Straßenführung bleibt spannend-interessant, nach einem Tunnel stoßen wir hinter der nächsten Kurve auf eine riesige Anlage aus Bunkern und Schützengräben und die Ruinen des Villaggio di Guerra aus dem ersten Weltkrieg. Wir nehmen ob der Ausmaße nur den untersten Bereich in Augenschein, schon diese eindringlichen 20 Minuten hinterlassen ein flaues Gefühl in der Magengegend und regen die Zentrale für Nachdenklichkeit im Großhirn eindringlich zur kritischen Weiterarbeit an. Fast ein wenig unheimlich gestaltet sich der abschließende Besuch einer unterirdischen Kaverne. Die Gänsehaut verschwindet erst nach einigen Minuten in der Abendsonne. Ehe sich die Wärmelieferantin anschickt, im Westen zu versinken, taucht sie zum Abschied noch einmal die höchsten Bergspitzen in  fast unwirkliches Licht. Ganz großes Kino.

Merklich kühler geht es vor bleigrauer Bergkulisse weiter bergab. Vergangenheit und Zukunft sind mindestens ähnlich unzugänglich wie das Terrain links und rechts von der kühnen Bergstraße, selbst das Anlegen eines bescheidenen Gemüsegärtchens erfordert aufwändige Steinmauern. Ein waagrechtes Fußballfeld im Val Dogna wird wohl immer eine Illusion bleiben. Aber auch ohne Fußball spielt man ständig gegen den Abstieg. Wer hier nicht kämpft, hat schon vorher verloren und unklar bleibt, ob sich der Kampf jemals lohnen kann. Man wandert an verlassenen alten Häusern vorbei und sieht, wie der Wald sich einstige Kulturflächen zurückholt – ein gewohntes Bild in den abgelegenen Gegenden Friauls. Wir gehen und das Vergehen am Wegesrand inspiriert ein wenig zu so 08/15-Standardfragen….wie: Woher kommen wir ? Wohin gehen wir ? Und ab Mitte Vierzig: Wie sehen wir dabei aus ?

Wir kommen aus Chiout und wir gehen nach Chiout zurück, keine Frage. Klar ist außerdem: Wir sehen garantiert müde aus, denn das Tagespensum auf den Schuhsohlen wird langsam, aber doch deutlich spürbar. Dr. Rücken diagnostiziert gewohnt trocken die aktuellen Problemzonen. Als wir schließlich und endlich in Chiout eintrudeln, hat die Dämmerung den Ort schon sanft in ihre Arme geschlossen. Kein Mensch zu sehen, kein Geräusch, keine Spur von Leben, kein beleuchtetes Fenster, lediglich zwei Straßenlaternen erhellen spärlich den einsam wartenden Citroen. Auf einer nahen Bank vernichten wir unsere allerletzten Vorräte und genießen in vollen Zügen eine grandiose Inszenierung, die lange in Erinnerung bleiben wird:

Unter uns die dunklen Fassaden von Chiout, dahinter die tiefschwarzen Wälder, darüber in verschiedenen Grauschattierungen die oft angesprochenen spektakulären Nordwände, an denen man sich unmöglich sattsehen kann. Zusätzlich zu allem optischen Überfluss klettert jetzt auch noch die helle Sichel des zunehmenden Mondes über die höchsten Grate. Atemberaubend schön.

Lebensgefühl kann man nicht kaufen. Oft liegt es einfach kostenlos am Wegesrand.

Obwohl er ihn nicht äußert…. hätte der Forensiker bestimmt noch mindestens einen Verbesserungsvorschlag für den Heimweg:

https://www.youtube.com/watch?v=CQv_CJEgLU0

Bei allem Respekt, mein Freund. Diesmal bin ich der Disc-Jockey:

https://www.youtube.com/watch?v=0kxk11D-mpY