(Eine (übel)launige Zeitreise mit Anton von Rauschenfels) von Hansi Mikl
Normalerweise bin ich nur selten mit Unbekannten unterwegs. Ganz besonders dann nicht, wenn diese schon seit längerer Zeit, nämlich seit dem 2. Mai 1877, tot sind: Anton von Rauschenfels war im Herbst des Jahres 1870 um, am und auf dem Faaker See zu Gange bzw. zu Boote und hat seine damaligen Eindrücke in blumiger Sprache schriftlich festgehalten. Auf den ersten Blick vielleicht eine eher morbide Idee, aber unbedingt Grund genug, sich fast 150 Jahre später, im Herbst des Jahres 2017, für ein paar Stunden an seine Spuren zu heften und in mehr oder weniger heiteren Dialogen mit ihm die teils gravierenden Veränderungen von Land und Leuten auszuloten und sich Gedanken über den Lauf der Zeit zu machen. Ob der Brückenbau von der relativ beschaulichen Vergangenheit in die hektische Gegenwart gelingen kann? Anton hat die behutsamen, bescheidenen Anfänge des Gründerzeit-Fremdenverkehrs in den 1870ern erlebt, ich könnte vom überaus lebendigen Brachial-Tourismus der 1960er- und 70er-Jahre berichten, als man in einer aus allen Nähten platzenden Region sogar Badewannen und Dachböden problemlos vermieten konnte, und von den Abwärtsspiralen und der Ernüchterung nach dem kurzen Goldrausch. Zeitzeugen auf vergleichender Wanderschaft. Warum denn nicht ? Den Versuch ist es wert.
Anton 1870:
„In östlicher Richtung von Villach sind mehrere äußerst lohnende Ausflüge zu machen…
… die wir aber nur andeuten, nicht beschreiben wollen, um nicht zu ermüden. Da ist Wernberg mit dem weitläufigen Schlosse des Grafen Wagensberg, Damtschach mit dem schönen Rosenbergischen Parke, Sternberg mit der herrlichen Aussicht, Velden der freundliche Badeort am Wörthersee, und Rosegg an der Drau in herrlicher Lage, mit dem Hirschpark des Fürsten Liechtenstein, von dessen Belvedere aus man einen prächtigen Ausblick auf das schöne Rosenthal genießt. Nur beispielsweise wollen wir eine solche Tour näher verfolgen, auf einem Rundgang, der durch die interessantesten Parthien führt, die man in der Umgebung Villachs, im kurzen Laufe eines Tages, ohne sonderliche Anstrengung berühren kann”.
Hansi 2017:
Verglichen mit Dir, mein lieber Anton, bin ich zwar eher ein schriftlicher Grobmotoriker – hinzu kommt, dass Du mit teils ausgestorbenen Worten jonglierst, die längst aus dem modernen Sprachbild herausgefallen sind -, aber in den schnellen Zeiten der zwitschernden Kommunikation bilde ich immerhin noch ganze, zusammenhängende Sätze und werde unsere gemeinsame Wanderung durch die Zeiten ohne Netzhauttrübung und garantiert ohne rosarote Brille absolvieren. Die aktuelle Wirklichkeit wirklichkeitsgetreu wiedergeben zu müssen, ist nicht gerade einfach, weil mit Schmerzen verbunden. Weniger physisch, mehr psychisch. Wo möglich, werde ich mich exakt an deine Vorschreibungen halten. Wo nötig, werde ich die Spur zwangsläufig verlassen und mir eigene Varianten ausdenken müssen. Wo sinnvoll, werde ich neue Streckenprofile anlegen – in 150 Jahren hat sich eine ganze Menge verändert und darüber, ob der vermeintliche Fortschritt nicht doch eher ein Rückschritt sein könnte, werden wir ernsthaft diskutieren müssen.
Anton 1870:
„Am besten fährt man von Villach mit dem Frühzug nach Föderlach, der ersten Station der Villach-Marburger Bahn, oder wer das nicht thun will, der kann zu Wagen, entweder über Maria Gail oder über Wernberg, in einer Stunde ebenfalls dahin gelangen. Ist er nun in Föderlach und verspürt etwa einiges Verlangen nach einem Gabelfrühstück, so mag er sich getrost bei Herrn Glaser an dem Marmortisch unter der großen Linde niederlassen, er wird zur Zufriedenheit bedient werden, dann aber auf und über die Draubrücke ans jenseitige Ufer, wo man nicht die Straße, die längs der Drau läuft, sondern den Weg einzuschlagen hat, der durch den Wald sehr mäßig bergauf führt, bis man nach drei Viertelstunden zu den ersten Häusern von Petschnitzen gelangt. Hier geht rechter Hand ein Fußpfad ab, der nach einer weiteren halben Stunde auf die Felsenkuppe des Berges Tabor führt, eine mäßig hohe Erhebung jenes vielgestaltigen, wechselreichen Mittelgebirges, welches von Müllnern bis unterhalb Rosegg am rechten Ufer, zuerst der Gail, dann der Drau sich hinzieht, wo es mit dem steil abfallenden Kumberg endet, eine eigene Gebirgswelt voll ungeahnter landschaftlicher Reize und Überraschungen, aber noch wenig gekannt und begangen”.
Hansi 2017:
Nach dunklen Regentagen. Die Septembersonne müht sich mit den frühen Hochnebelfeldern ab. Mariano setzt uns direkt am Bahnhof in Föderlach ab, übrigens noch ein altehrwürdiges Relikt aus deinen altehrwürdigen K&K-Zeiten. Alles Fassade allerdings, eigentlich ein Eisenbahn-Museum, denkmalgeschützt vielleicht, nur innerhalb herrscht menschenleere Friedhofsruhe, die Schalter sind schon seit Jahren unbesetzt und der Wartesaal geschlossen, die Gespräche der Wartenden sind den Smartphones zum Opfer gefallen. Die moderne Welt des globalen Kapitalismus hat sich Gewinnmaximierung auf die Fahnen geheftet, sie ist (er)nüchtern(d), digital und effizient. Selbst die Sentimentalität wird wegrationalisiert, weil sie klarerweise keine Erträge einspielt. Mein Verlangen nach einem Gabelfrühstück hält sich ebenfalls in erträglichen Grenzen, nicht nur, weil Gabelfrühstücke generell nicht mehr am zeitgenössischen Speisezettel stehen, sondern weil es hier schon lange keine Marmortische unter großen Linden gibt. Marmortische sind nicht besonders pflegeleicht und große Linden stellen in stürmischen Zeiten ein unkalkulierbares Sicherheitsrisiko dar. Zu gefährlich, jeder Schadensfall erfordert unbedingt einen verantwortlichen Schuldigen, Schicksal und höhere Gewalt als Erklärung haben ausgedient. Florierende Landgasthöfe sind gleichermaßen selten geworden, eine bedrohte und wenn sich die Rahmenbedingungen nicht ändern, bald ausgestorbene Gastronomiespezies. Dafür ist der hiesige Lärmpegel beachtlich, LKWs im Dreiminutentakt und PKWs im Minutentakt begleiten uns mit der breiten Landstraße in Richtung Draubrücke. Weder die große Fleischfabrik auf der linken Seite, noch das große Schotterwerk auf der rechten Seite sind sehenswerte Augenweiden und deine Drau von einst produziert hier träge und breit auf die Turbinen eines Kraftwerks wartend als Stausee immerhin umweltfreundliche Energie für eine Gesellschaft, deren Energiebedarf jährlich und ständig steigt. Das letzte Stück bis zur Schnellstraßenkreuzung ist ein sportlich wertvoller Spießrutenlauf mit nur geringem Entspannungsfaktor. Ein freundlicher Feldweg führt dann endlich verkehrsberuhigt und verhältnismäßig naturbelassen durch Felder und Wiesen, links an Bogenfeld vorbei, mitten in jene „vielgestaltige, wechselreiche Mittelgebirgswelt hinein, die ob ihrer Unwegbarkeit noch immer wenig gekannt und begangen wird und die nach wie vor voller ungeahnter landschaftlicher Reize und Überraschungen steckt”. Der alte Waldweg, der uns auf moderater Steigung Petschnitzen näherbringt hat schon deutlich bessere Zeiten erlebt, nach den Starkregenereignissen der letzten Sommer präsentiert er sich in eher bemitleidenswertem Zustand. Stumme Zeugen des fortschreitenden Klimawandels am Wegesrand sind umgestürzte bzw. hängende Bäume und dürre bzw. sterbende Opfer des Borkenkäfers und anderer Schädlinge. Die Landschaftsbilder werden sich in den kommenden Jahren mehr oder weniger gravierend ändern. Nach drei Viertelstunden und kurz vor den ersten Häusern von Petschnitzen empfängt uns mit dem Brummen eines Steyr 8055 eine altbekannte Geräuschkulisse: Mariano beliefert die Pferde und Rinder in der Polana mit frischem Gras. Rechter Hand geht es wie damals auf den Tabor. Allerdings nicht mehr über einen schmalen Fußpfad, sondern über eine asphaltierte Straße. Eine dünne und leider eher desolate Zivilisationsschicht, die ziemlich holprig mit Rissen, Furchen und Schlaglöchern die finanzielle Lage der Kommunen erschreckend deutlich wiederspiegelt.
Anton 1870:
„Die Aussicht vom Tabor ist eine wundervolle. Das Treffner Thal bis in die Gegend von Feld, das Drau-Thal aufwärts bis zur jähen Biegung bei Möllbrücken, weit hinauf ins Möllthal bis Obervellach, wo die schneegefurchten des Feldseekofels den Weiterblick hemmen, ins untere Gailthal, ins Kanalthal, von wo hoch über dem grünen Luschariberg, die kahlen Dolomitwände des Montaccio herüber winken, ins schöne Rosenthal bis Feistritz und endlich hinab zu den fernen steirischen Grenzgebirgen.
Dies ist der äußerste Horizont der großartigen Rundschau und hat sich das Auge daran satt gesehen, so bleibt noch das prachtvolle Panorama der näheren Umgebung zu bewundern übrig. Am Fuße des Berges fluthet zunächst der liebliche Faaker See mit seiner anmuthigen Halbinsel, welche, wenn sie nur ein bisschen größer wäre, ganz wohl an Armibas Zaubergarten gemahnen könnte. Über weitgedehnte Auen und Felder, über bewaldete Hügel und anheimelnde Thälchen schweift der Blick, bald fesselt ihn ein weißer Kirchthurm, bald ein altes Schloß. Besonders Wernberg und die Ruinen von Landskron machen den Eindruck wie galiläische Bergstädtchen in einer Bilderbibel, auch Finkenstein schaut, wiewohl in Trümmern, noch trutziglich zu Thal von seinem Felsenthrone, und die wenigen Ueberreste der dahingesunkenen Raubburgen von Föderaun und der Ritter von Rase, so wie die stattlichen Fensterreihen der uralten Abtei zu Arnoldstein sind ebenfalls selbst dem unbewaffneten Auge erreichbar. Gegen Osten enthalb eines Gewoges grüner Hügel glänzt die blaue Fläche des Wörther Sees und vermag der Blick den Schlangenwindungen der Drau zu folgen, bis wo sie den Fuß der Karawanken netzt, deren kahle Felswände sich coulissenartig in einander schieben, vom Mittagskogel im Süden, dessen Risse und Schruden man von hier aus zählen kann, bis zur Petzen, deren Contouren im blauen Dunste verschwimmen. Wer vermöchte die Reize aller dieser Landschaften genügend zu schildern in Sonderheit, wenn über das Ganze ein klarer Himmel sich wölbt und die Sonne freundlich drein scheint, so dass man meint, es könne nur Glückliche geben auf diesem ganz prächtigen Stück Erde”.
Hansi 2017:
Schön geschrieben und in einem Punkt herrscht absolute Einigkeit: Die Aussicht vom Tabor ist (nach wie vor und fortwährender Landschaftsbildzerstörungen zum Trotz) eine wundervolle !!!!!. Für mich persönlich selbst nach dem 1428. Versuch ein funktioneller Herzerwärmer und ewig junger Sehnsuchtspunkt. Zeitlos schön. Dafür bezweifle ich stark, dass es weder damals unter den blauen Himmeln des 19. Jahrhunderts, noch heute unter den problemlos nachcolorierbaren Himmeln meiner Zeit nur Glückliche gab und gibt. Bei der österreichischen Selbstmordstatistik war und ist Kärnten meistens Spitzenreiter und die Nervenheilanstalten sind stets gut besucht, die freundliche Sonne und ein klarer Himmel reichen halt längst nicht aus, um auf Dauer im Gleichgewicht zu bleiben. Jeder kennt die hartnäckigen Adria-Tiefs als Gegenentwurf. Jedenfalls, vergleicht man die aktuellen Aussichten vom Tabor mit deinen Beschreibungen, so dürfte der Berg bei deinem Besuch längst nicht so üppig bewachsen bzw. überhaupt kahlgeschlagen gewesen sein. Kalkbrennen als zusätzliche Einkommensquelle war dann auch nicht besonders naturnah. Die Sicht nach Südwesten und Westen ist heute noch ungehindert beschaubar: Der Mittagskogel, die westlichen Karawanken, die Karnischen Alpen, der Dobratsch und im Hintergrund die Hohen Tauern stehen den Facebook-Postern und Twitter-Usern uneingeschränkt zur Verfügung, während die restlichen Himmelsrichtungen praktisch zur Gänze hinter dem Wald mit seinen hohen Bäumen verschwunden sind. Vor einiger Zeit stand deshalb auf der Taborhöhe sogar ein Aussichtsturm, in seiner Endphase musste jedoch auch er vor der munter wachsenden Vegetation kapitulieren, diente nur mehr ornithologischen Beobachtungen und wurde irgendwann wegen sehr eingeschränkter Fernsicht demontiert. Möglicherweise etwas kurzsichtig und voreilig, denn der Klimawandel rückt, wie bereits erwähnt, mit Borkenkäfern, Stürmen, Dürreperioden und massiven Nassschneeereignissen den Wäldern permanent zu Leibe – es wäre wohl keine große Überraschung, wenn die Rundumsicht von anno dazumal in absehbarer Zeit wieder möglich wäre. Vorerst beherbergt der Tabor-Wald in seinen Baumkronen aber noch einen Waldseilpark in verschiedenen Schwierigkeitsstufen ( www.hochhinauf.at ) und im Erdgeschoss darunter tummelt sich darüber hinaus in bemerkenswerter Artenvielfalt allerlei Getier (Braunbären, Rehe, Hirsche, Dachse, Luchse, Eulen, Adler etc. –), welches sich mit grenzenloser Gelassenheit als jeweils stationäre Kunststoff-Zielscheibe im Rahmen eines „3-D-Bogenparcours” zahlender und zielender Kundschaft zur Verfügung stellt. Der eher bizarre Einfall eines fliegenden Fuchses vom Berg zur Insel hat den Sprung aus der Schublade zur drohenden Ausbaufähigkeit Gott sei Dank noch nicht geschafft.
Meine Bewunderung für das prachtvolle Panorama der näheren Umgebung ist ebenfalls enden wollend: Zwar „fluthet am Fuße des Berges noch immer der liebliche Faaker See”, aber um ihn herum sind die einstigen „weitgedehnten Auen und Felder, die bewaldeten Hügel und anheimelnden Thälchen” nicht gerade behutsam, sondern eher rücksichtslos verbaut worden – die Landschaft schrumpft von Jahr zu Jahr und sie wächst leider nicht mehr nach. Setzt sich der Trend, für genügend Geld sogar seine Großmutter, das Familiensilber und jedes Grundstück verscherbeln zu wollen ungebremst fort, und es hat leider so den Anschein, hat es sich mit „den Reizen aller dieser Landschaften” irgendwann erledigt. Womit man dann den Ast, auf dem man sitzt endlich abgesägt hätte: Ein halbwegs intaktes Landschaftsbild stellt eine touristische Grundvoraussetzung dar.
Manche deiner historischen Sehenswürdigkeiten sind selbst schwerbewaffneten Augen nicht mehr erreichbar, weil sie entweder im Wald verschwunden oder vom Zahn der Zeit abgenagt worden sind (Federaun zB oder die kümmerlichen Reste der Ritter von Rase), andere hingegen haben neue Untermieter leicht zweckentfremdet mit neuen Ideen und gravierenden Richtungsänderungen vorm endgültigen Verfall bewahrt: In den Trümmern der Ruine Finkenstein ist ein gleichermaßen bekannter wie beliebter Veranstaltungsort entstanden ( www.burgarena.at https://www.youtube.com/watch?v=hbJ1ez6AsGI https://www.youtube.com/watch?v=epqbhItByqk ), die Abtei zu Arnoldstein wurde ebenfalls 5vor12 erfolgreich wiederbelebt ( www.burgruine.at ) und der Burghügel von Landskron hat sich zum sicheren Zufluchtsort für bedrohte einheimische Greifvögel und außereuropäische Primaten mit gehobener Gastronomie für den Homo sapiens ( www.adlerarena.at https://www.youtube.com/watch?v=P4ln3ehs_g8 ) entwickelt.
Anton 1870:
„Und nun wieder hinab vom Berge Tabor und wenn es gerade Herbstzeit ist, zwischen den in üppigster Blüthe stehenden Buchwaizenfeldern, welche die Luft mit ihrem Honiggeruch würzen, hindurch, gegen das bescheidene Dörfchen Petschnitzen, das mit seiner kleinen Kirche und dem idyllischen Pfarrhofe unter einem Walde von Obst- und Lindenbäumen versteckt liegt, recht freundlich und anmuthig. Vor dem Pfarrhause prangt ein nettes Gärtchen mit den mannigfaltigsten Herbstblumen; im Gartenhause ist eine improvisirte Knabenschule etablirt und die buchstabirenden Kinderstimmen schallen weithin durch die Luft, während Bienenschwärme das an das Gärtchen anstoßende Haidenfeld geschäftig umsummen, ein reizendes Bild des heiligen Friedens, doppelt rührend zur Zeit als ich es sah, wo ich die Gedanken nicht los werden konnte an die ausgebrannten Wohnstätten und die zertretenen Fluren auf den blutgedüngten Schlachtfelder im Norden und Süden”.
Hansi 2017:
Querfeldein auf direktem Wege lernt man die richtig stillen Ecken des Tabors kennen und ist nebenbei schnellstmöglich wieder am Ausgangspunkt im unverändert bescheidenen Dörfchen Petschnitzen angelangt. Dieses hat, wie praktisch alle ländlichen Gegenden, in den letzten Jahrzehnten einen dramatischen Strukturwandel absolvieren müssen. Mit ihm sind nicht nur die blühenden Buchweizenfelder und die Obstbaum- und Lindenwälder verschwunden, die Selbstversorgung und Unabhängigkeit der lokalen Bauernschaft und deren Kultur sind entweder massiv im Rückzug begriffen oder längst schon die Drau hinuntergegangen. Die hügeligen Wiesen am Weg leicht bergab zur kleinen Kirche hin werden fortschreitend von Goldruten, Schilfgras, Brombeeren und Sträuchern renaturiert und die buchstabierenden Kinderstimmen der einstigen Pfarrhof-Knabenschule sind schon lange verstummt. Mutmaßlich hat damals während deines Durchmarsches wohl mein Urgroßvater eine der harten Schulbänke gedrückt und zählte damit zur ersten Generation des Ortes, die das Privileg besaß, den Analphabetismus hinter sich zu lassen und auf bessere Zeiten und angenehmere Lebensbedingungen hoffen zu dürfen. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung kamen leider zwei Weltkriege, ständige Rechtschreibreformen und gesellschaftliche Umwälzungen in Serie. Die hiesigen Bienen treten übrigens kaum mehr in Schwärmen auf, sie zählen längst zu den bedrohten Tierarten (Varroa-Milbe und andere Schädlinge, Monokulturen, Pestizide, Wiesen, die schon Wochen vor der Blüte in Plastikfolien verschwinden etc. etc. etc.). Stark rückläufig ist auch die Anzahl der Geistlichen und Gläubigen, nicht nur in der kleinen Kirche von Petschnitzen. Abgesehen von Zölibat und neuen Glaubensrichtungen haben sogenannte soziale Netzwerke oder digitale Heilsbringer aus der Esoterik-Ecke die Seelsorge der versprengten Schäfchen übernommen. Was nicht automatisch schlecht sein muss, aber irgendwie fühlt man manchmal deutlich diese enorme Diskrepanz zwischen der Sehnsucht nach einer helleren Zukunft und der Enttäuschung bei ihrem dunkleren Eintreffen. Hätte dir damals jemand den baldigen Untergang deiner Epoche prophezeit, hättest du es geglaubt ?
Anton 1870:
„Von Petschnitzen geht der Fahrweg knapp am Ufer des Faaker Sees nach Egg und Drobolach, wo man sich auf die Insel übersetzen lassen kann, um in deren schattigen Haine längs dem Uferende einen Rundgang zu machen, der durch die wechselvollsten Landschaften, die einem bei jeder Wendung des Pfades entgegentreten, gewiß höchlich interessiren wird. Von der Insel mag man entweder zurück rudern nach Drobolach und von da durch die Dobrowa über Maria Gail nach Villach wandern, oder man fährt in entgegengesetzter Richtung ans südliche Ufer des Sees und schlägt durch die Auen den Weg nach Malestig ein wo das Kmetische Gasthaus willkommene Rast bietet. Der Mittagskogel mit seinen vorgelagerten Felsrissen, von denen die Ruinen Finkenstein und St. Kanzians Kirchlein hernieder schauen, präsentirt sich von hier aus auf sehr eindrückliche Weise. Anderseits gewähren die Felswände des Dobratsch, und im Vordergrunde der malerische Felsenkopf von Föderaun, so wie die weite Perspektive des Gailthales bis hinauf gegen Kötschach, ebenso reiche als charakteristische Landschaftsbilder”.
Hansi 2017:
Das Leben als limitierte Edition könnte an einem sonnigen Septembertag so leicht sein. Aber leider ist es eher schwer – mit dem Harley-Treffen ist der Sommer am Faaker See lediglich inoffiziell, aber trotzdem irreversibel beendet. Dort, wo vor einigen Tagen noch lautstark die Motorrad-Motoren blubberten und ihre Zweirad-Bären steppten … sagen sich jetzt schon die Füchse gute Nacht. Theoretisch und von der Geländestruktur erwartet uns eigentlich ein müheloser Spaziergang mit lösbaren Aufgaben: Zum See schlendern, ein Boot mieten und die Insel „mit ihren schattigen Hainen erkunden”. Klingt tatsächlich ziemlich problemlos und das war es vor 150 Jahren offenbar auch. Damals war vermutlich der Großteil des Seeufers völlig unverbaut und durch Auen und Mooswiesen jeder Mann und jeder Frau frei zugänglich. Die Ruderboot-Kapitäne des 19. Jahrhunderts dürften sich außerdem gemeinsam mit dem Insel-Wirten über jede Fahrt, jeden Passagier und jeden Kreuzer ehrlich gefreut haben. Es war einmal und ist nicht mehr. In der Praxis zeigt sich einmal mehr sehr deutlich, dass sich der vermeintliche Fortschritt seit 1870 in erträglichen Grenzen hält. Kurzer Faktencheck und schnelle Hürdenhöhenmessung, lieber Anton. Problem Nr. 1: Sowohl in Egg, als auch in Drobollach haben sich die mietbaren Elektroboote bereits vor Herbstbeginn in die Winterpause verabschiedet. Lediglich in Faak könnte man, so verspricht die Recherche im Internet (http://www.elektro-boote.at/ ), noch ein Boot ergattern. Zweites Problem: Das Inselhotel (http://www.inselhotel.at/ ) hat ebenfalls seit 17. September geschlossen und wird erst im kommenden Mai wieder seine Pforten öffnen, die dazugehörige Insel befindet sich gleichfalls in Privatbesitz und unser geplantes privates Entern des Faaker-See-Eilands in Jack-Sparrow-Manier würde glatt den Tatbestand einer strafbaren Handlung erfüllen. Der „Rundgang längs dem Inseluferende” wird also bestenfalls eine Rundfahrt mit einem Elektroboot, was zwar nicht gut, aber noch immer besser als gar nichts ist.
Der Weg zum See führt uns mit dem „Fitness Parcours” mitten durch die Auwälder direkt ans Ostufer. Das entspricht zwar wieder einmal nicht ganz deinen Vorgaben, ist aber etwas kürzer und wegen der absoluten Ruhe eine sinnvolle, Gelenke und Gehörgänge schonende Alternative zur vielbefahrenen Hauptstraße. Die Strandpromenade empfängt uns weitestgehend einsam: Die Touristen befinden sich wieder in ihrem Alltag und die geschlossenen Lokale sind im Betriebsurlaubsmodus. Den Gegenverkehr bis nach Faak am See kann man an einer Hand abzählen… ein wandelnder Rucksack, zwei nordische Geherinnen und 1 hyperaktiver Mischlingshund mit hochroter Begleiterin. Erste Station ist die Elektroboot-Marina. Elektroboote schaukeln da zwar in ausreichender Anzahl und friedlich auf zahlende Kundschaft wartend im Wasser, es fehlt aber ein wenig am guten Willen. Achselzuckend und (weil von höherer Wettergewalt bei strahlendem Sonnenschein wohl kaum die Rede sein kann) mit einer heiteren Motivationsseminarsweisheit vertröstet uns der völlig überredungsresistente, mit allen Salben gesalbte und mit allen Wassern gewaschene Bootsverleiher aufs kommende Wochenende. Was uns im Augenblick nicht wirklich weiterhilft. Wir sind noch nicht reif für die Insel und für die Aufarbeitung persönlicher Befindlichkeiten fehlen mir Zeit und Lust. Unverrichteter Dinge geht es weiter nach Faak. Der Ort hat den einstigen Dorfcharakter erfolgreich abgelegt, die unzähligen funkelnagelneuen Einfamilienhäuser strahlen eine nüchtern-saubere, überaus überzeugend eingezäunte, fast klinische Vorstadtatmosphäre aus. Wenigstens der „Kärntnerhof”( https://www.kaerntnerhof.net/ ) nimmt noch Fußvolk, Geld und Bestellungen an. Einen Kaffee und einen Topfenstrudel später verlassen wir erneut Plan A und wählen statt der breiten Landstraße den idyllischen Sandweg durchs Finkensteiner Moor. Als munterer Begleiter plätschert sich der Faaker Seebach nach Westen und verwöhnt den sehenden und hörenden Wanderer mit lebendiger Geräuschkulisse und versteckten, aber durchwegs lauschigen Rastplätzen. Mit beschwingter Leichtigkeit geht es mit minimalem Gefälle durchs Schilfgebiet, das Licht des frühen Nachmittags hellt erlittene Enttäuschungen nachhaltig auf. Die Ruinen von Finkenstein und St. Kanzians Kirchlein schauen weiterhin unverdrossen hernieder, Malestig und die willkommene Rast im Kmetischen Gasthaus hingegen können wir getrost von deiner To-Do-Liste streichen: Beides gibt es nicht mehr. Malestig wurde irgendwann vermeintlich wohlklingender in Finkenstein umbenannt und vom Kmetischen Gasthaus fehlt überhaupt jede Spur. Wenigstens die reichen und charakteristischen Landschaftsbilder der umliegenden Bergwelt sind vollzählig erhalten geblieben. Ab Höfling hat man wieder Asphalt unter den Sohlen, das benachbarte St. Stefan erinnert schon im Ansatz bzw. im östlichen Peripheriebereich an die Faaker Vorstädte und kann ohne dramatische Erlebnisverluste zügig durchschritten werden.
Anton 1870:
„Ein kurzweiliger Weg führt von Malestig über das schön gelegene Dorf St. Stefan und durch das parkähnliche Thälchen von Müllnern zur Fähre an der Gail, von wo aus man das Villacher Warmbad erreicht. Der Art hat man binnen wenigen Stunden einen Berg mit herrlicher Aussicht bestiegen, die zwei größten Flüsse des Landes überschritten, einen schönen See durchschifft und mag sich schließlich im Badebassin von der geringen Müdigkeit erholen, die alles dies verursacht; die empfangenen angenehmen Eindrücke dieser Parthie wird man nicht so bald los werden”.
Hansi 2017:
Nach den letzten Häusern von St. Stefan quert man die Bahnlinie und wechselt in ständiger Begleitung des Faaker Seebaches in das Thälchen, dessen Parkähnlichkeit nur mehr an wenigen Stellen und bestenfalls in Ansätzen erkennbar ist, in Richtung Müllnern. Auch hier befindet sich die einstige Kulturlandschaft auf dem Weg zurück zur Natur. Unglücklicherweise werden die brachliegenden Nischen an Böschungen und Straßenrändern bevorzugt von unsympathischen, weil inversiven Neophyten, wie dem drüsigen Springkraut bevölkert, welches den eingeborenen Pflanzengesellschaften zunehmend den Lebensraum streitig macht. Unterwegs lernt man sogar den gemeinen Maschendrahtzaun zu schätzen, denn er hindert den zähnefletschenden Schäferhund auf der anderen Seite erfolgreich daran, die betont unaufdringlich vorbeimarschierenden Rucksackträger als mobile Kostprobe zu betrachten. Unbeschadet, aber hungrig erreichen wir Müllnern und die örtliche Nudelfabrik (http://www.finkensteiner.at/ ). Zu deiner Zeit pochte an dieser Stelle noch ein Hammerwerk, ehe man die Produktion Mitte der 1890er Jahre auf Teigwaren umstellte. Was uns jetzt praktischerweise die Möglichkeit eröffnet, den knurrenden Magen mit Käferbohnensalaten und Ciabatta und die verdiente Pause mit unterhaltsamen Milieustudien zu füllen. Die Fähre an der Gail ist längst durch eine stabile Brücke ersetzt worden. Diese bringt im Zuge einer breiten Straße nicht nur uns, sondern vordringlich den Nahverkehr über den Fluss hinüber nach Villach, darüber ist eine Autobahn für den Schwer- und Fernverkehr zuständig und daneben rollen auf der Bahnstrecke nationale und internationale Züge durch die Gegend. Daraus ergibt sich mit vereinten Kräften eine recht beachtliche Lärmkulisse, zusätzlich läuft man am schmalen Bankett balancierend permanent Gefahr, als lebendige Kühlerfigur am fließenden Verkehr teilzunehmen. Solchermaßen absolviert man bis kurz vor Warmbad eine sportlich wertvolle, aber insgesamt eher strenge Übung. Erst ein Fluchtweg kurz vor einer Gärtnerei fährt Blutdruck und Herzfrequenz wieder etwas herunter. Der gewählte Umweg führt durch den angrenzenden Wald und eines der schönsten Naherholungsgebiete der Stadt. Am Wegesrand streift man so ganz nebenbei verschiedene Sehenswürdigkeiten wie die Napoleonwiese. Der namensgebende berühmt-berüchtigte französische Feldherr wollte hier angeblich einen Park anlegen – ein wenig glaubwürdiges, schwerverdauliches Produkt aus der lokalen Gerüchteküche. Der gute Mann hatte damals bestimmt ganz andere Ziele und Probleme. Gesichert sind hingegen Hügelgräber aus der Hallstattzeit und eine alte Römerstraße. Sehr wahrscheinlich waren sowohl Kelten, als auch Römer begeistere Besucher des nahegelegenen Maibachls, welches nach zuletzt ergiebigen Regenfällen gerade munter sprudelt. Um diese Tageszeit komme ich trotzdem nicht ernsthaft auf die Idee, in den natürlichen Badebassins „Erholung von der geringen Müdigkeit” zu suchen – zu viel Frequenz im Wasser und am Ufer zu viele schaulustige Beobachter mit gezückten Smartphone-Objektiven. Dem Abfluss folgend trudeln wir von Norden in den Kurpark ein. In den großen Parkanlagen scheint von jeher die Langsamkeit beheimatet, die Rekonvaleszenten sind zwangsläufig im Schongang unterwegs, gedämpfte Gespräche unter ausladenden Baumkronen oder auf Holzbänken vor verblühenden Blumenrabatten. Man kann die letzten Stunden schlagen hören.
Am großen Vorplatz der Kärnten-Therme endet auf futuristisch anmutenden Sitzgelegenheiten unsere kleine Reise quer durch die Zeiten. Wir müssen wohl oder übel Abschied nehmen. Du wirst wieder in den ewigen Jagdgründen wildern und ich muss mich wieder um alltägliche Notwendigkeiten kümmern. Die Zeit läuft davon, die Arbeit nicht.
Mein lieber Anton: Ohne Dich hätte ich nicht binnen weniger Stunden einen Berg mit herrlicher Aussicht bestiegen, die zwei größten Flüsse des Landes überschritten, wäre nicht sang- und klanglos am Durchschiffen eines schönen Sees gescheitert und hätte wohl nie so unmittelbar bemerkt, wie viel sich seither verändert hat. Und wenn wir jetzt unsere beiden Monologe einfach in einen Topf werfen…ergibt sich ja vielleicht am Ende daraus so etwas wie ein Dialog, der uns verbindet.
Und selbst wenn längst nicht alle empfangenen Eindrücke angenehm waren: Irgendwie wars ja trotzdem schön.