Auf den Spuren einer vergangenen Zeit

Phantasie ist eine Art von Realität ohne passende Zeit, ohne geeigneten Raum.

Es gibt Menschen, die an Dinge glauben, die sie nicht sehen, und solche, die die Dinge sehen, ohne sie glauben zu können. Die meisten aber nehmen gar nicht erst wahr und lächeln (im besten Falle) über jene, die davon erzählen…
So ist es wohl auch mit dem alter ego von Hansi, dem val canale und Orten wie Moggessa di qua, Moggessa di là und Stavoli. Die Existenz des Ersteren kennt viele Meinungen, Zweiteres birgt Geschichten zwischen seinen engen Bergrücken, die wahrlich unglaublich sind, und Drittere sind bis heute den meisten ohnehin verborgen geblieben.

Am Sonntag, den 29. April 2012, spielten sie alle ihre Rolle, wovon im Folgenden berichtet werden soll.

Schon der Vortag litt unter unglaubwürdigen, aber tatsächlichen 31 Grad, was einerseits berauschend, andererseits aber auch bedenklich für die geplante Tour an den Rand der Zivilisation war. Doch wir hatten Glück. Ein sanfter Wind und lose Bewölkung begrüssten uns zum Start unseres Ausflugs, der zunächst über die Grenze in´s italienische Friaul und besagtes val canale führte. Schon bald bekommt man aus dem Auto heraus Mitleid mit der Bevölkerung (Passage aus dem Reiseführer), deren Ortschaften und Behausungen von der Straßenbauern in ein für immer geducktes Dasein unter Beton verdammt wurden. Leer und öde lechzen diese Überreste besserer Zeiten am Rande des Fella nach dessen aufspritzender Gischt auf dem Wege weg von der Mutter aller Tristesse. Eine Gegend, in der man sich nicht wundern würde, wenn – wie andernorts Jod – hier Antidepressiva dem Trinkwasser beigemischt wären. Vorläufiger Höhepunkt ist hier zweifelsohne Dogna, dessen Kirchturm innig umarmt von der Bundesstraße auf den „eiligen” Geist wartet, der aber wohl meist vorbeifahren wird. Irgendwann dann öffnet sich das enge Tal und bietet Platz für Moggio Udinese und sein Kloster, dessen Abt im 16. Jhd. auf die irrwitzig anmutende Idee kam, eines der vielen Seitentäler, die sich ihren Weg in´s Gebirge gegraben hatten, urbar machen zu lassen. Mutmaßlich trieb in hierbei schlicht die Notwendigkeit an, wenigstens irgendwo ein fruchtbares Fleckchen Erde aufzutun, welches zur Ernährung beitragen konnte.

Ungetrübten Mutes verliessen wir hier die Mikl´sche Kutsche und übergaben unser Schicksal der Wegbeschreibung eines gewissen Herrn Pilgram, der sich wohl mit einigen Gleichgesinnten der Aufgabe gewidmet hat, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Wer übrigens ähnlich distanziert, wie Hansi und sein alter ego, dem Untergang der größten genetischen Fehlproduktion seit dem Urknall, gegenübersteht, dem ist dieses Buch – Die letzten Täler, Wandern und Einkehren im Friaul – wärmstens zu empfehlen. Spätestens nach dem ersten, knapp einstündigen Aufstieg wird man merken, ob man wirklich ein würdiger Leser ist. Nicht genug, dass die Pumpe des Flachlandtirolers an diesem Tag zum ersten Mal sämtliche Flüssigkeit ihres Herrn durch die Hautporen gequetscht hatte, bekommt man – kostenlos – einen ersten Einblick in das, was wohl erst noch kommen mag. Sprich, man kann sich nur schwer vorstellen, dass es einen Weg durch diese karge, unwirtlich anmutende, von Spalten und Schluchten zerfressene Landschaft geben kann. Gut, daß man die dort wartenden Wege nicht kennt, würde man sonst wohl kaum ernsthaft in Erwägung ziehen, weiterzulaufen. Uns aber trieb diese Neugier an, die uns genauso eint, wie vieles andere. Abgesehen davon, dass der weitere Pfad teilweise schon da war, wo wir hinzukommen drohten, nämlich am Boden der ihn begleitenden Schlucht, war die nächste Teilstrecke richtig harmlos. Wenigstens ging es mal eine Weile recht ebenerdig daher. Und so erreichten wir dann doch recht entspannt über Gott und die Welt philosophierend – oder waren es doch nur die Frauen? – unser erstes Etappenziel, Moggessa di qua.

Steht man mitten in den Überresten dieses Dorfes, dem das Erdbeben 1976 nachhaltig den Gar ausmachte, begibt man sich unweigerlich auf eine Reise zurück in eine Zeit, von der die Mauern und Balken, die Gitter vor den Fenstern, die niedrigen Türdurchgänge und der Moder, der über allem liegt, erzählen. Man wünscht sich einen Zeitzeugen, der das wiederbelebt, was man sich ausmalt. Doch die Gassen bleiben leer und stumm. Wie sagt Hansi so gerne: die Natur erobert sich am Ende doch alles wieder zurück.

Ob wir das Brot nach kurzer Pause einfach vergaßen oder für die zurückließen, deren Seelen vielleicht noch irgendwo im Ort gefangen waren, bleibt ungewiss. Der zunächst weiter bequeme Weg brach mit der idyllischen Verlassenheit in Form eines Schachtdeckels, unter dem sich eine Wasserleitung verbarg, die sich dann abenteuerlich hässlich, in Form einer flexiblen Metallröhre über die Schlucht zwischen M. di qua und M. di lá schwang. Damit aber nicht genug, in letzterem angekommen, trafen wir auf zwei Autos – schade eigentlich. Wohl auch deshalb wirkte dieser Platz auch etwas belebter, ohne deshalb lebendiger zu sein. Zaghafte Restaurationsversuche in Beton, nein danke. Dann lieber doch der Scharm des Verrottenden.

Ich bereute in diesem Moment, zwischenzeitlich bei Überquerung der Schlucht, die die beiden Orte trennt, nicht dem Reiz gefolgt zu sein, dieser dem Flusslauf ein wenig entgegen zu gehen, wo mich bestimmt mehr Unberührtes berührt hätte. Einer von noch folgenden Gründen für eine Wiederkehr.

Mit Blick auf die Uhr widmeten wir uns einem ersten heftigen Abstieg zurück in die totale, wilde Natur. Der Preis hierfür: ein genauso langer Aufstieg auf der anderen Seite nach Stavoli. Gefühlter Gewichtsverlust über die Poren, weitere 5 Liter. Müßig zu erwähnen, dass das kärntner Urtier hierfür nur ein müdes Lächeln übrig hatte. Auf einen neuerlichen Pulsvergleich wurde aufgrund der niederschmetternden Erfahrung nach dem ersten Anstieg (130 vs. 70) verzichtet. Man muß ja nicht dauernd in den Spiegel des eigenen Verfalls schauen.

In Stavoli trafen wir dann sogar auf ein paar mehr Eingeborene, waren uns bis dahin doch wohltuend fast ausschließlich einige wenige, gleichgesinnte Verrückte Tagestourer begegnet. Übrigens ein höfliches Volk, welches uns stets mit einem freundlichen „Salve” grüßte. Der Ort nun hatte etwas idyllisches, schien besser in Schuss, als seine Nachbardörfer, und war vor allem mit einem Trinkwasserbrunnen ausgestattet, der auf der Suche nach dem weiteren Weg gleich mehrfach herhalten musste. Der eingangs erwähnte Reiseführer war nämlich gut, aber nicht perfekt. An zwei, drei Stellen hätte man sich etwas mehr Eindeutigkeit gewünscht, die auch möglich gewesen wäre. Nun gut, mit vereintem Orientierungssinn letztlich kein größeres Problem. Ein weiteres Plus des Reisegespanns! Es kam, was kommen musste, der nächste Abstieg in’s Tal des Torrente Glagno (aua!), gefolgt von einer wunderschönen Passage entlang des Flusses. Hierbei ergaben sich weitere Gründe für eine Wiederkehr, die aber streng geheim sind, ähnlich einer geschlossenen Brückenüberführung, die ohne jede Beschilderung wohl einen Eisenbahntunnel beinhaltet, aber so abgesichert ist, als wenn es ein Militärstollen wäre. Mit Blick auf die bewegte, grauenvolle Geschichte dieser Region, wäre diese Mutmaßung ja auch garnicht so abwegig gewesen. Kondition und Wanderung näherten sich nun ihrem Ende. Die Tourbeschreibung wartete zum Abschluß noch mit einer Abkürzung auf, die in einem letzten Energieakt bezwungen, den Eindruck hinterließ, inzwischen von der Natur eher zu einem Umweg umgebaut worden zu sein. Das konnte uns aber auch nicht mehr aus den Socken reissen und so blieb nichts anderes übrig, als wieder in die Gegenwart zurückzukehren.

Ein schöner Tag, der zunächst in den Knochen und später dann im Gedächtnis stecken blieb. Wenn ich nun heute darüber schreibe, beeindrucken mich erneut die durchwanderten, teils atemberaubenden Kontraste und die oft wortlose Einvernehmlichkeit mit Hansi, so als wenn wir uns schon ewig kennen würden.

A.E. im Mai 2012