BiiiiiiiiiiiiiNNGGGOOOOO !!!!!

28 Jahre mit einem rustikalen Muttersöhnchen

(von Hansi Mikl)

 

1992 war ein ziemlich spezielles Jahr, in dem das Leben so richtig Fahrt aufnahm. Irgendwann im Mai überschrieb mir mein Vater den Hof (wohl mehr aus Altersgründen, denn aus Überzeugung) und beendete damit den Status einer geschützten Werkstatt, in der ich es mir jahrelang eher risikolos und gemütlich eingerichtet hatte. Ab sofort hatte ich zwar freie Hand, trug aber plötzlich die Verantwortung für Häuser, Scheunen, Wälder, Wiesen und Tiere und würde in Zukunft für meine Fehler selbst bezahlen müssen. Lauter Umstände, die einen langsamen Reifeprozess auslösten, der in abgeschwächter Form bis heute anhält.

Im September heirateten Ines und ich nach sechsjähriger Probezeit, eine weitere richtungsweisende Lebensentscheidung. Weil weder Zeit noch Geld für eine große Hochzeitsreise zur Verfügung stand, beschlossen wir, dem nunmehr fast zweijährigen pferdefreien Zustand am Gasperitsch-Hof ein Ende zu bereiten. Mein alter Hafloaraber Flamenco hatte schon vor einiger Zeit das Zeitliche gesegnet, Vaters letzter Arbeits-Noriker Brauner (weil er braun war) hatte den neuen, motorisierten 55-PS-Zeiten mit ihren veränderten Rahmenbedingungen weichen müssen. Die Pferdestände standen erstmals seit Jahrhunderten oder sogar erstmals ever leer, setzten Staub und Spinnweben an und boten ein trauriges Bild des Niedergangs.

 

Also sammelten wir einschlägige Annoncen und tourten auf Pferdesuche durchs Land.

Erste Kandidatin war eine dreijährige Haflingerstute im tiefsten Rosental. Eigentlich ganz nett, aber nicht nett genug um irgendwelche Funken überspringen zu lassen. Wesentlich interessanter war da ein explosiver Hafloaraber-Hengst in Längdorf, der wie eine Reinkarnation meines Flamenco aussah. Unglücklicherweise war sein Preis zu hoch (ungefähr 1000 Schillinge pro km/h) und sein Bremsweg zu lang: Bei einem rasanten Probegalopp über einen langen, staubigen Feldweg wollte ich ihn bis zum Dorf wieder auf Normalgeschwindigkeit herunterbremsen….trotz intensivster Bemühungen kamen wir erst nach einer wilden Rodeo-Diskussion mit gesetzteswidrigen Geschwindigkeitsüberschreitungen im Ortsgebiet ein ganzes Stück vor der nächsten Ortschaft quietschend zum Stehen. Eine pfeilschnelle Adrenalin-Tankstelle, ja, aber nichts für Ines.

Eine gutmütige schwarze Hafloaraberstute irgendwo hinter der Gerlitzen auf dem Weg nach Himmelberg war nicht nur zu klein, sondern auch zu dick. Ihr schönes Hengstfohlen wäre zwar eine Überlegung wert gewesen, aber erst in drei Jahren reitbar. Auch nicht.

 

Der nächste Versuch an einem warmen, sonnigen Septembervormittag war eine Haflingerstute an einem steilen Südhang in der Nähe von Ferndorf. Ihr freundlicher Besitzer war ein wenig in die Jahre gekommen und die Arbeit war mühsam geworden, nun befand er sich auf der dringenden Suche nach einem guten Platz für seine Blondine. Ich hatte eher wenig Hoffnung, aber als ich sie mit ihrer weißen Mähne im Schatten riesiger Buschgruppen stehen sah, war mir in Sekundenbruchteilen klar: Das ist sie ! Genau die !!! Die Sache hatte allerdings einen Haken: Aus ihrem Windschatten löste sich direkt ein angriffslustiges, völlig respektloses Hengstfohlen. Ein kleiner Grobian auf vier Beinen, der offensichtlich riesiges Potenzial im Ärgermachen besaß. Meine Ambitionen, diesen Rüpel im Doppelpack mit seiner Mutter käuflich zu erwerben hielten sich in erträglichen Grenzen. Der Alte beschwor mich jedoch eindringlich, den kleinen Wilden ohne weiteren Aufpreis zu übernehmen und nahm mir das Versprechen ab, ihn weder kurzerhand, noch irgendwann an irgendeinen Pferdewurstproduzenten zu verscherbeln. Bingo !

 

Der Handschlag zählte und ich hielt mich an unsere Vereinbarung. Schon ein paar Tage später zogen Minka und Bingo bei uns ein, um hier eine lebenslange Stellung anzutreten und im Laufe der Jahre zu absoluten Verlasspferden und vierbeinigen Hoflegenden zu avancieren. In der Haltungs- und Trainings-Praxis der ersten Monate begingen wir zwar einige schwere Fehler, die aber durchwegs schön waren und an die ich mich heute noch gerne zurückerinnere. So ritten wir Minka in einem einfachen Learning-by-doing-Modus ein, halt immer mit Bingo als oft nervigen Begleiter, der unsere Bemühungen stets mit unnötigen Aktionen sabotierte. Durch die nie erfolgte Trennung sollten die beiden Haflinger ein Leben lang extrem aufeinander fixiert sein, bildeten dadurch aber ein perfekt eingespieltes, harmonisches Duo, welches in über zwei Jahrzehnten zahllose Kinder-Fortgeschrittenen-Anfänger- und Nachtausritte absolvieren sollte.

 

Während Minka mit ihrer fast grenzenlosen Gutmütigkeit und Geduld sofort zum unumstrittenen Liebling aller Kinder wurde, blieb Bingo bis nach seiner Metamorphose zum Wallach mit Vorsicht zu genießen. Unvergessen so mancher Hufschmied-Termin in jenen Tagen, als der Halbstarke wenigstens drei starke, erwachsene Männer gleichzeitig vollbeschäftigte. Regelmäßig war es eine actionreiche Reise nach Jerusalem, nach einer zünftigen Rangelei mit ihm war man kurzfristig urlaubsreif und langfristig bemuskelt. Umstritten auch seine damalige Glanz-Rolle als elektrischer Weidezaun-Revoluzzer und Warmblut-Ausbruchs-Guide.

Mit den Jahren legte sich der jugendliche Übermut und die kleinkriminelle Energie wich einer kaum für möglich gehaltenen Seriosität: Bingo entwickelte sich zu einem zuverlässigen Reitpferd, welches die Qualität seiner Reiter(innen) perfekt einschätzen konnte und sein Benehmen zu 100% darauf abstimmte. Wahrscheinlich könnte man ein Buch mit durchwegs heiter-besinnlichen Reitanekdoten aus 25 Jahren füllen. So viele witzige, schöne Erinnerungen, deren Wert man erst im Rückblick begreift. Ein einziges Mal endete ein Ausritt auf Bingo mit einem Sturz, der eine Verletzung nach sich zog, weil beim Angaloppieren auf der Zielgeraden unglücklicherweise der Riemen des Steigbügels riss. Ansonsten brachte der einstige Rüpel seine Reiter(innen) meist glücklich und stets wohlbehalten ins Ziel. Eine Cushing-Erkrankung bescherte ihm in seinen letzten Lebensjahren ein eher zottelig-struppiges Erscheinungsbild, hinderte ihn aber nicht daran, unverzagt einen Job als krisensicheres Verlasspferd auszuüben. Nichtsdestotrotz erhielt er sich bis zum Schluss so etwas wie eine selektive Grundschlitzohrigkeit. Wenn ich ihn ritt, was wirklich nur sehr selten vorkam, konnte ich unbedingt damit rechnen, dass er spannende Extras wie zB. muntere Bocksprünge zum gemeinsamen Unterhaltungsgewinn ins Programm einbaute, während er sich stets als friedliches Lämmchen präsentierte, sobald sich ihm ein ängstliches Kind oder eine vorsichtige Frau anvertraute.

 

In seinem letzten Sommer erlebte er so etwas wie einen zweiten Frühling und präsentierte sich fit und unternehmungslustig, ehe eine Kolik für ein abruptes, denkwürdiges Ende sorgte. Mehrere Tierarzt-Rettungsversuche mit einschlägigen Behandlungen und Spritzen konnten seine Verdauung nicht mehr in Gang bringen. Zwischen den Injektionen marschierte ich mit ihm stundenlang durch die Wälder, ohne ein rettendes Ufer erreichen zu können. Rückblickend war es ein Abschiednehmen der ganz speziellen Art, denn wir gingen gemeinsam ein letztes Mal viele jener Wege, die wir in so langen und doch zu kurzen 28 Jahren mit den unterschiedlichsten Leuten geritten waren. Unzählige Schauplätze witzig-wunderbarer Anekdoten und netter Erinnerungen: Das Unterholz, in dem in tiefschwarzer Nacht die Maus in die Mausefalle ging. Die weiche Gerade überm Sumpf, wo ihm unzählige Reiterinnen laut und deutlich Karotten, Äpfel oder hartes Brot versprachen, wenn er sie denn bitte nur gesund wieder nach Hause brächte. Die ansteigende Galoppstrecke mit der markanten Rechtskurve, wo er dem Tempo der Araber Tribut zollen musste. Der lange Sandweg ins Pfadfinderlager, dessen Wiesenabkürzungen er exklusiv kraft- und zeitsparend für sich entdeckte. Der unverschämt steile Anstieg zum Wauberg, der ihn immer ziemlich ins Schwitzen und seine großen Schauspieltalente zum Vorschein brachte. Die unwegsamen Wurzelstrecken, auf denen er regelmäßig seine Trittsicherheit unter Beweis stellen konnte. Vorbei an der Polana, auf der er viele lange Urlaubswochen genießen durfte. Die Abschnitte, in denen sich die frühe Morgensonne durchs Blätterdach kämpfte und deren Licht die quietschfidele Mutter der Zwillinge mit schöner Regelmäßigkeit dazu inspirierte, vergnügt Grönemeyer zu summen. Damals war ich heilfroh, dass sie das Liedchen wenigstens nicht sang, aber jetzt, mit fast zwanzigjähriger Verspätung kam der Text tatsächlich bei mir an: „Am Strand des Lebens, ohne Grund, ohne Verstand, ist nichts vergebens…“.

Am folgenden schwülwarmen Augustnachmittag verbrachte Bingo seine letzten Stunden gemeinsam mit seinen alten Weggefährt(innen) Santo, Lenzo, Messi, Mentos und Sulaika auf der Koppel, ehe er ganz am Ende seines Weges umkippte. Auch in seiner letzten Minute waren wir an seiner Seite.

Und es ist, es ist ok., alles auf dem Weg, es ist Sommerzeit, unbeschwert und frei. Und der Mensch bleibt Mensch und wird nur auf einem Pferd zum Reiter. Auf dessen Rücken liegt ja, so wissen Eingeweihte, das Glück dieser Erde.