Dr. Wetzels Reiseberichte „Der Mittagskogel“

von Dr. Dirk Wetzel

28. Juni 2006, 9.30 Uhr, Mittagskogel, der Westgrat

Düstere Wolken haben den Tag zur Nacht werden lassen, dichter Regen peitscht über die felsigen Schluchten der Karawanken. Grelle Blitze durchzucken den Himmel, gefolgt von heftigen Donnerschlägen. Ein Blitz erhellt die Szenerie und beleuchtet für Sekundenbruchteile fünf schemenhafte Gestalten, die sich eng an die Felsen kauern.
Unter einem auseinandergefalteten Butterbrotpapier suchen sie Schutz vor der Urgewalt der Elemente, Rettung ist nicht in Sicht….

Nun ja, so oder so ähnlich hätte Hollywood unsere Bergtour verfilmt, leichte Übertreibungen würden unter „dichterischer Freiheit” verbucht. Aber wir wollen natürlich bei der Wahrheit bleiben. Fangen wir also nochmals von vorne an:

28. Juni 2006, 5.30 Uhr, Taborhütte, mein Bett

 

Der Wecker piept ein fröhliches Guten-Morgen-Signal in die Stille, und ich frage mich, ob ich eigentlich bescheuert bin, diesen Urlaubstag mit vier anderen Bekloppten damit zu verbringen, einen Berg hoch zu stapfen, anstatt mit meiner Familie am See zu sitzen. Einstweilen tröste ich mich damit, dass ich Hansi zu seinem heutigen Geburtstag, seinem vierzigsten, eine Freude mache. Meine anfängliche Annahme, seine Begeisterung für eine Bergtour an seinem eigenen Ehrentag sei rein altruistisch motiviert, stellte sich nämlich recht bald als falsch heraus. Vielmehr wollte unser Jubilar den zahlreichen Gratulationsanrufern entgehen, und da bietet sich ein Ausflug in die alpine Bergwelt natürlich an. Natürlich hatte Hansi sich, ganz Profi, am Tag vorher drei verschiedene Wetterprognosen angeschaut. Keine davon hatte für den Vormittag des 28.6. Gewitter vorher gesagt. Doch dazu später mehr.

Zunächst stapfe ich mit meinem Rucksack zum Mikl-Hof, wo mich meine neuen (Berg-)Kameraden schon erwarten. Den ersten Teil der Strecke legen wir in einem Geländewagen britischer Bauart zurück, was dem ganzen ein wenig die Romantik eines Kommandounternehmens verleiht. Am Fuße des Berges angekommen, schultern wir unser Marschgepäck und beginnen voll froher Erwartung unsere Tour. Zunächst geht es eher leicht bergauf, die Wege sind gut ausgebaut und ich beginne zu denken, dass es doch eigentlich so schlimm nicht werden kann. Bei einer kurzen Rast stimmt uns Hansi dann allerdings auf ein Stück Weg ein, für das sich noch niemand bei ihm bedankt habe. In der Tat: auf diese Idee wären auch wir wohl nicht gekommen. Der Weg führt steil bergauf über einen Weg, der zum Teil eher wie ein ausgetrocknetes Flussbett wirkt. Ob der Steigung kann ich mich zum ersten Mal mit einem interessanten physikalischen Phänomen vertraut machen, das Hansi den „Rucksack-Effekt” nennt: wer stehen bleibt, fällt rückwärts wieder den Berg ´runter.

Aber auch dieser Teil des Aufstiegs ist irgendwann geschafft, als nächstes kommen wir zur österreichisch-slowenischen Grenze, die auf dem Kamm des westlichen Ausläufers „unseres Berges” verläuft. Dort erwartet uns eine Schutzhütte der eher ungewöhnlichen Bauart: der Form nach einer Hundehütte nicht unähnlich, unwesentlich größer, gerade genug Platz bietend für zwei Matratzen. Hansis Bemerkung, für ein Date mit einer hübschen 25-jährigen wäre die Hütte gerade richtig, kommt mir allerdings unlogisch vor. Da die Hütte nämlich komplett fensterlos und somit stockfinster ist, erscheinen ästhetische Aspekte eines Tete-a-tete eher sekundär. Nun, wie auch immer, was kümmern mich die Phantasien eines über 40-jährigen, schließlich ruft der Berg.

Durch den lichter werdenden Nadelwald führt unser Weg an den steilen Abhängen der slowenischen Seite zum Westgrat hin. Zunächst wartet der Kleine Mittagskogel auf uns, wo wir unser Frühstück einnehmen wollen. Dort angekommen, bietet sich uns schon ein beeindruckendes Panorama. Trotz mäßiger Fernsicht hat man einen phantastischen Blick auf den Faaker See, allerdings sieht von hier aus auch der Anstieg auf den Großen Mittagskogel noch ein bißchen steiler aus…. Egal, frisch gestärkt geht es weiter voran. Bevor wir auf den eigentlichen Westgrat kommen, ist noch ein Übergang zu bewältigen, bei dem ich für das dort angebrachte Stahlseil echt dankbar bin. Hansis launige Bemerkung, aufgrund des Grenzverlaufs könne man sich hier noch im Fallen entscheiden, ob man auf österreichischer oder slowenischer Seite zu Tode stürzt, hebt meine Stimmung wirklich ungemein.

Nun geht der eigentliche Anstieg los: in engen Kurven stapfen wir über das Geröll und kämpfen uns Höhenmeter für Höhenmeter nach oben. Und jetzt kommt unerwartete Dramatik ins Spiel: von Westen nähert sich plötzlich wie aus dem Nichts eine finstere Wolkenwand, die unaufhaltsam und bedrohlich näher rückt. Hansis zunächst noch entspannte Gesichtszüge werden zunehmend kantiger. Als wir dann innerhalb kürzester Zeit von Nebel umhüllt im Regen stehen, macht man sich auch im Tal Sorgen um uns: Hansis Handy bimmelt und Ines fragt sorgenvoll nach unserem Befinden und den weiteren Plänen. Zunächst ist also Kriegsrat angesagt. Nachdem der Weg über den Gipfel der deutlich weitere und ungeschütztere ist, entscheiden wir uns einhellig fürs Umkehren. Schade eigentlich, aber „safety first”, wie die Franzosen sagen.

So geht es also wieder zurück zu unserem bereits bekannten, drahtseilbewehrten Übergang. An dessen Ende treffen wir ein österreichisches Ehepaar, das ebenfalls das Für und Wider des Weitergehens abwägt. Da sich zwischenzeitlich die Wolken wie von Zauberhand wieder verzogen haben, gehen die beiden aber weiter. Offensichtlich bringt unseren Bergführer insbesondere die Tatsache, dass soeben eine Frau an ihm vorbeigezogen ist, nachhaltig ins Grübeln. Da -wie erwähnt- das Wetter auch zunehmend besser wird, revidieren wir unsere Entscheidung und nehmen den Mittagskogel erneut in Angriff. Zunächst geht es also (..und ewig grüßt das Murmeltier) wieder am Drahtseil über den Übergang, auch die ersten 150 Höhenmeter kommen uns verdammt bekannt vor. Aber egal, wir lassen uns jetzt nicht mehr beirren und schaffen den Aufstieg mit ein paar kleinen Pausen.

Oben angekommen setzen wir uns in die inzwischen strahlend scheinende Sonne und strecken erstmal alle viere von uns. Gesellschaft leisten uns dabei Angestellte des österreichischen Tourismusministeriums, die (als Bergdohlen verkleidet) gegen Gebühr (in die Luft geworfenes Gebäck) Luftakrobatik vorführen. Nette Idee eigentlich.

Hansi stimmt uns jetzt auf die Topographie des Mittagskogels ein und will uns zuerst das „Westkreuz” zeigen. Als zivilisatorisch überformter Mensch denkt man sofort an Autobahnen, aber halt, diese Kreuze heißen in Österreich ja Knoten. Tatsächlich gibt es auf dem langgezogenen Gipfelgrat zwei Gipfelkreuze, eben ein „Westkreuz” und ein „Ostkreuz”. So tapern wir also pflichtschuldigst den Gipfelgrat entlang und genießen dabei die zugegebenermaßen atemberaubende Aussicht auf die umliegenden Berge bis zu den Hohen Tauern und auf die Seen vom Faaker bis zum Wörther See.

Von nun an geht es dann logischerweise steil bergab auf der „Touristenroute” an der Südseite, die nun schon im prallen Sonnenlicht liegt. Dementsprechend rosig ist die Gesichtsfarbe der uns entgegenkommenden Bergwanderer, was wir mit stiller Genugtuung zur Kenntnis nehmen. Wir passieren auf dem Abstieg noch einige Schneefelder, die aber quasi vor unseren Augen schmelzen. Für eine kleine Rutschpartie sind sie aber noch allemal gut. Unterhalb der Baumgrenze verläuft der Weg dann wieder deutlich flacher bis zur Berthahütte, an der wir eine kurze Rast einlegen. Dabei beobachten wir -diesmal aus sicherer Entfernung- noch einmal das Schauspiel, das das Wetter in den Bergen bieten kann: innerhalb kürzester Zeit ist der Mittagskogel in dichten Wolken verschwunden, Regen setzt ein und aus der Ferne grollt Donner. Nach wenigen Minuten ist der Spuk wieder vorbei und die Sonne strahlt vom Himmel, als sei nichts gewesen.

Der weitere Abstieg über breite Forstwege ist nicht mehr der Rede wert. Ines holt uns netterweise an einem vorher telefonisch vereinbarten Treffpunkt ab, so dass wir nicht mehr den ganzen Weg zum Auto zurück laufen müssen. Trotzdem zwicken am nächsten Tag die Schenkel ein bißchen, aber was soll´s: gelohnt hat es sich auf jeden Fall. Hansi hatte fast den ganzen Tag Ruhe vor den Gratulanten, und wir anderen hatten ein unvergeßliches Erlebnis, von dem wir noch lange erzählen können.