Eine akustische Erleuchtung im Maybachl
von Uwe Pütz
Jeden Abend trafen wir uns im Frühstücksraum, der zu unserem EM-Studio geworden war. Hier sahen wir Deutschland untergehen und Portugal über England triumphieren, warteten launig darauf, dass Prohaska mit gravitätisch stumpfer Handbewegung das Spiel zusammenfasste, und zielsicher darauf, dass Hansis Einwurf „Heute wäre ein guter Abend!” wieder im Seitenaus landete.
Wie jeder Abend hatte auch dieser seine formale Routine. Der Bayer saß schon vor seinem Bier, ich platzierte mich am rechten Flügel, Hansi checkte die E-Mails am Computer in der Küche. Der Wiener kam eine Minute vor Anpfiff.
Anfangs hatte ich ihn als etwas behäbigen Riesen wahrgenommen, der sich für den Urlaub ein paar lässige Cargo-Hosen gestattete, von dem ich aber sicher annahm, dass er im Büro nie ohne Anzug erscheinen würde. Beim ersten Mal fragte ich mich, woher er die Bierdosen nahm, die er mit fortschreitender Spielzeit in Stellung brachte. 16er-Feinblech, sagte er einmal lakonisch. Weil das Bier aus Wiens 16. Bezirk stamme. Dann bemerkte ich, dass er ein ehefrausicheres Versteck benutzte: die Taschen seiner Cargo-Hosen, ein Doppelpack auf jeder Seite. „Ja Servus!”. Immer dann, wenn es so aussah, als könnte jemand ein Tor schießen, stieß er diese zwei Worte aus. Der Bayer, unbeeindruckt von derart ökonomisch dosierter Anteilnahme, watschte gerade wieder Spaniens Angreifer Deco ab, Hansi hoffte auf die große Offensive der Portugiesen, und ich darauf, dass mein Tipp noch aufgehen würde. So vergingen die Abende in einer stammtischartigen Behaglichkeit, gepolstert von dem beruhigenden Gefühl, dass morgen wieder ein neuer Spieltag sein würde.
„Und, wie sieht’s heute Abend aus?” fragte Hansi tatenlustig.
Ich hatte meine Strandtasche bereits dabei, es gab keine Ausrede mehr, keine Verlängerung, kein Regen, dafür eine fast sternenklare Nacht, als Hansi sein Auto in Richtung Warmbad Villach fuhr. Aus der Box krächzte eine Stimme, die entfernt an Bryan Adams erinnerte, als wir den Parkplatz verließen. Noch im Gespräch vertieft, folgte ich Hansi auf einem Weg durch eine erloschene Siedlung, bis ich merkte, dass wir direkt in die Finsternis hineinschlitterten. Die Nacht verstellte uns die Sicht, so sehr ich auch versuchte, Konturen zu ertasten, ich blieb ein Blinder, der einen Fuß vor den anderen setzte. Das änderte sich, als der Raum plötzlich Tiefe bekam und ich so etwas wie ein Licht, vielleicht ein Kerzenlicht, in der Ferne blinzeln sah. Dort also ist es, das Maybachl, die Thermalquelle, gespeist aus 30 Grad warmen Wasser. Ich zog mich aus, nackt folgte ich Hansi über den Stein-Kies-Boden, der sich langsam absenkte. Ja, das Wasser war wirklich angenehm warm, das Becken hatte nach meiner Schätzung das Ausmaß eines Kinderswimmingpools, mit dem Unterschied, dass man nicht sagen konnte, worauf man sich eigentlich bewegte. Steine, sicher, aber die hatten alle möglichen Formen, manche waren verdammt spitz, weshalb es nahe lag, sich ein schönes Plätzchen zum Anlehnen zu suchen, den Kopf in die Halbschräge zu legen und diese nachtschwarze, wasserwarme Atmosphäre auf sich wirken zu lassen.
Zunächst war ich zu vertieft ins Gespräch, um sie wirklich wahrzunehmen. Da rumorte sie noch im Wald, dunkel vibrierend, ein tiefer, amorpher Widerhall, der etwas Verlockendes aussandte. Dann war sie plötzlich überall. Eine Stimme, die alles verschlang, jedes Gespräch und jeden Versuch, seinen eigenen Gedanken zu folgen. „Ja, Pauli, komm doch herein!”, ermunterte die Stimme jemanden, „komm mal herüber”, rief sie weiter, Banalitäten waren das, aber getragen von einem Baß, groß und gebieterisch. Die Stimme war eine Bühne, auf der jedes Stück von Wichtigkeit hätte gegeben werden können. Mal wandte sie sich behütend den Begleitern zu, mal sanftmütig fordernd. Mal erschien vor meinem Ohr ein biblischer Hirte, der seine Schäfchen einsammelte, mal schien mir, die Stimme könne ein kriegslüsternes Heer beschwichtigen und mal, dass sie einen Monarchen hätte adeln können. Für einen Moment dachte ich ans Mittelalter und an Mönche, fragte mich, ob es Scouts beim Film gibt, die durch die Welt ziehen, um Stimmenmodels zu entdecken. So verging gut eine Stunde, bis wir uns aus dem Wasser erhoben, schwer, auf einmal fröstelnd zur Bank eilten, uns umzogen, und bemerkten, dass auch die Stimme mit seinen Begleitern um uns herum war. Als wir wieder die Siedlung erreicht hatten, erkannte ich vor einem Golf für einen blassen Moment die Umrisse der Person mit der Stimme, ein unbestimmtes, junges, irgendwie herkömmliches Gesicht, das nicht zur Vorstellung der Nacht passen wollte.
Und doch, die Stimme wirkte noch lange nach, die Stimme und der Abend. In diesem Bad, unter dem schwarzen, sternenfunkelnden Himmel, verschieben sich die Dimensionen, man beginnt wieder zu hören, anders zu hören, beim Hören zu sehen.
Erstaunlicherweise sollte ich noch einmal Zeuge eines Ereignisses werden, dass sich im Maybachl zutrug. Diesmal empfingen uns kichernde Stimmen im Becken, doch bevor die Damen uns mitteilen konnten, worüber sie sich amüsieren, hörten wir von weitem eine Stimme heraufziehen, polternd und ungestüm wie die eines Rübezahl. Die Weibsbilder suchten das Trockene, was der Ankömmling nicht ohne deftigen Kommentar abgehen ließ. Keine zwei Minuten später strand er uns so nah auf den Füßen, dass uns der Geruch von Schweiß und Knoblauch und Alkohol direkt ins Gesicht wehte. Er sprach frei heraus, machte keinerlei Umschweife aus seiner Spielleidenschaft, die ihn wieder ins Kasino getrieben, und die ihn wieder um einige Euro erleichtert hatte, und da er den Kummer längst im Bier ertränkt hatte, kam er von einem spontane Einfall zum nächsten: mal ging es ums Wasser im Maybachl, mal um die Liebe, mal und vor allem ums Glück.
Wenn die Gier nach visuellen Eindrücken schweigt, nimmt das Ohr ganz anders wahr. Wahrscheinlich dachte ich mir, sollte ich jeden Abend in dieses Wasser steigen und darauf warten, was die Nacht mir diesmal erzählt. Doch es war Zeit für die Heimreise.
Acht Tage nach meiner Rückkehr erreichte mich eine E-Mail von Hansi mit der Kopie eines Artikels, der in der Kärntner Kleinen Zeitung erschienen war. Der Botschafter franziskanischer Fröhlichkeit geht nach Innichen stand dort zu lesen, darunter das Bild des Mannes, der für mich eine Figur der Dunkelheit geblieben war. Das Gesicht von Bruder Martin. Ein spitzbübischer Ausdruck lag in seinen Augen, die, obwohl leicht zusammengekniffen, von einer Heiterkeit waren, der man nicht ansah, ob sie der Jugend oder einer tieferen Einsicht geschuldet war. Doch ein Bild sagt manchmal viel weniger als Worte, das versteht jeder, der Bruder Martins Stimme einmal gehört hat. So wie ich, in dieser milden Sommernacht im Juni 2004.