Von Hansi Mikl
(Teil I – Der Tabor und seine weisen weißen Frauen)
Die moderne Welt scheint zunehmend enträtselt. Mit Verlaub – der Schein trügt gewaltig, denn tatsächlich gibt es noch viele Orte und Plätze mit besonderer Ausstrahlung, umrankt von Sagen und Legenden, vom Wald fast überwuchert, von der Erosion schwer gezeichnet, geheimnisumwittert und fast vergessen.
Mein Dorf, Petschnitzen, liegt auf einem sonnigen Hochplateau östlich des Faaker Sees. Nach Süden hin ist es frei, aber ansonsten ist es festungsartig umzingelt von dichten Wäldern und uralten, sagenumwobenen Bergen.
Im Westen der Tabor (725 m), ein Tafelberg mit brüchigen Felswänden aus Konglomerat. Bekannt und beliebt als prächtiger Aussichtspunkt direkt überm See, neuerdings mit einem Hochseilpark ausgestattet. Eher unbekannt sind, weil entweder gut versteckt oder nur mühsam erreichbar …ein kleines Hochmoor und alte Pfade in und unter den Felsen. Die Chroniken sprechen von schwer zugänglichen Höhlen und alten Fluchtburgen, von eingestürzten Gängen und von Bergbau in kleinem Stil.
Im Norden der Wauberg 689 m). Ein Kegelberg, steil abfallend in alle Himmelsrichtungen. Rätselhaft, ein einziges Fragezeichen. Auf der Visitenkarte des eher kleinflächigen Gipfelareals finden sich sowohl urgeschichtliche (endjungsteinzeitliche Keramik), als auch römische Funde (das Limesfalsum eines Asses aus der Zeit von Caracalla), eine kreisrunde, gemauerte Vertiefung, sowie unter der Grasnabe erkennbare Mauerzüge. Die wagen Vermutungen der Historiker reichen von einer vorrömischen Kultstätte, einer spätrömischen Anlage über ein langobardisches Kastell bis hin zu einer frühmittelalterlichen Festungsanlage. Dazwischen bleibt naturgemäß eine Menge Raum für Sagen, Legenden, Fantasie und Spekulation.
Im Nordosten viele namenlose kleine Höhen und mittendrin der Rudnik (717m). Langgezogen, unwegsam, lediglich von Westen her ohne großen Schweißverlust zugänglich. Der Name des Berges sagt zwar mehr als tausend Worte ( „Rudnik” bedeutet auf slowenisch Bergwerk), trotzdem scheint da namensgebungsmäßig ein böser Irrtum vorzuliegen. Die historischen Quellen in Person eines Friesacher Bergrichters namens Warmuhs (aus dem Jahre 1753) sprudeln zwar……”in den nebenliegenden Rudnikberg, wo an sehr vielen Stellen Erz ausbeißt, auch sehr viele alte Stollen und Schachte zu sehen sind, woraus man erkennen könne, dass hier die Alten sehr viel gebaut haben müssen”. Aber: Haben sie nicht. Zumindest nicht hier, denn der angebliche Rudnik weist weder Stollen, noch Tagbaustellen auf.
Sind die alten Aufzeichnungen demnach nicht glaubwürdig ? Natürlich sind sie das. Der alte Warmuhs wird damals (ähnlich wie der junge Mikl gerade jetzt) wohl kaum irgendwelche Luftschlösser für seinen Bericht zusammengenagelt haben. Das alte Bergbaugebiet liegt lediglich im und am benachbarten Berg – dem Kozjak (auch Arzach genannt).
Der Kozjak (642 m) liegt exakt im Osten des Dorfes zwischen dem Rudnik und dem Bleiberg. Mit seinem ausladenden Rücken, welcher bald steil, fast senkrecht in eine wildromantische Schlucht abfällt…ist er von alten Stollen durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Die Vegetation arbeitet mit Hochdruck daran, die alten Tagbaue und Abraumhalden mit neuem Grün zu überziehen, ein versteckter, aber definitiv tiefer Luftschacht erweist sich bei Bedarf als zuverlässige Endlagerstätte für noch umherliegendes taubes Gestein oder aufdringliche Schwiegermütter. Ähnlich wie seine Umgebung, ist dieser sonderbare Berg nicht nur von Blei und Zink, sondern auch von Mythen und Legenden kontaminiert.
Der letzte „Wachturm” steht im Südosten und nennt sich Bleiberg (770 m). Es ist zwar der Höchste dieser Berge, aber dafür der vergleichsweise langweiligste. Keine Kultstätten, keine Bergwerke, keine verfallenen Burgen. Wenigstens bietet er am höchsten Punkt eine halbwegs passable Aussicht und an exponierten Stellen noch eine Menge ursprünglicher Natur. Was sich aber demnächst ändern wird, denn breite, LKW-taugliche Forstwege sind nicht nur in Planung, sondern stehen unmittelbar vor der Realisierung.
Ich kenne diese Orte mit ihren ganz speziellen Nischen wie meine Westentasche. Sie waren das abenteuerliche Reservat meiner Kindertage als „Waldläufer” (dieser Umstand erklärt – aber entschuldigt nicht – rückblickend meine eher durch- bis unterdurchschnittlichen Zensuren in diversen Schulen), sie sind mit anstrengender, oft nicht ungefährlicher Regelmäßigkeit mein Arbeitsplatz, sie sind für mich gleichermaßen Lebens- und Erholungsraum, manchmal Zufluchtsstätten, die mich für den Alltag unauffindbar machen, fallweise dienen sie als dunkle Kulisse oder schlecht beleuchteter Schauplatz für besondere Veranstaltungen wie zB Nachtwanderungen oder Vollmondausritte.
Die Thematik von so genannten „Kraftorten” ist eine heikle. Hat man das Wort erst ausgeschrieben, wird man gerne und umgehend mit einem milden Lächeln in esoterische Schubladen gesteckt und als weltfremd abgestempelt. Mag sein, dass man auf dem Land noch etwas mehr Sensibilität für diese Dinge entwickelt, weil man die Natur und deren Kräfte als Autorität, die selbst in unsicheren Zeiten des Klimawandels den Lebens- und Arbeitsrhythmus vorgibt, akzeptieren muss. Zweifellos ist die Magie dieser Orte zugunsten einer nüchternen Weltanschauung beinahe in Vergessenheit geraten, weil halt nicht sein kann, was nicht sein darf und was nicht als zweifelsfrei erwiesen gilt, wird natürlich in Frage gestellt. Punkt.
Ich habe keinen blassen Schimmer vom Strahlungsfeld der Erde, von Magnetfeldern, von Störungszonen, von natürlicher Radioaktivität oder anderen ominösen Energiequellen. Eigene seelische (oder auch körperliche) Empfindungen an so genannten Kraftorten sind ja stets subjektiv und messtechnisch nicht registrierbar. Tatsache ist aber, dass die Alten ihre Tempel, Kultplätze oder Kirchen nicht einfach nur wahllos wegen der sonnigen Lage und der guten Aussicht in die Landschaft gesetzt haben, sondern deren Standorte oft nach wesentlich tiefgründigeren Kriterien wählen mussten. So stehen diese Orte häufig in astronomischer Ausrichtung zueinander und die Exaktheit, mit der sie das tun, befreit sie schnell vom Vorwurf des reinen Zufalls.
Keine 200 Meter Luftlinie von der Tastatur des Computers entfernt erheben sich die brüchigen Konglomerat-Felswände des Tabors. Die spektakulärsten und höchsten Felsen, sowie die umliegenden Wälder befinden sich seit vielen Generationen in Familienbesitz und so wird nicht nur das Land jeweils vom Vater an den Sohn weitergegeben, sondern auch die oft sagenhaften Geschichten und Dramen, die sich in tiefer oder seichter Vergangenheit angeblich oder tatsächlich darauf abgespielt haben. Ich fand es schon immer faszinierend, den alten mündlichen Überlieferungen an ihren Originalschauplätzen nachzuspüren und sie, wenn möglich, durch historisches Quellenmaterial zu ergänzen.
Am Fuße der vielleicht imposantesten Taborwand befindet sich ein geheimnisvoller Ort, den wir familienintern und in slowenischer Mundart „Einziedlarca” (die Einsiedlerin) nennen. Es sind die noch immer ansehnlichen Reste einer einst wohl noch weitläufigeren Höhle.
Hier, wie in vielen Felsenhöhlen in Kärnten, wohnten und wirkten in alter, vorchristlicher Zeit die heidnisch-slawischen „Zale Zene”, auch „Svete Zene” (heilige Frauen) oder „Bele Zene” (weiße Frauen) genannt. Man könnte ihnen eine ähnliche Funktion nachsagen, wie jene der Druiden bei den Kelten. Auch die keltischen Druiden haben sich, obwohl schon lange im Schatten der Geschichte verschwunden, einen legendären Ruf als „reale Sagengestalten” erarbeitet. Dabei beschreibt sie Julius Cäsar höchstpersönlich als Angehörige der keltischen Adelsschicht, als Intellektuelle, Priester, Philosophen, Astrologen, Rechtsgelehrte, Magier und Ärzte. Zuständig uA für den Opferdienst und fürs mantische Brauchtum. Zusätzlich agierten sie als politische Berater und Unterhändler. Bei Bedarf auch als Wahrsager. Es hält sich in diesem Zusammenhang hartnäckig das Gerücht, keltische Druiden hätten nach dem Brand des Kapitols im Jahre 69 den Untergang des römischen Reiches prophezeit.
Kleiner Link, wegen der Hintergrundinformation, und überhaupt:
www.keltenwelt.at
Die Druiden verschwanden im Laufe der Zeit unter den Sandalen der römischen Legionen, selbst wenn es in Kärnten bzw. in der Provinz Noricum eine durchaus friedliche Koexistenz zwischen Kelten und Römern gab. Man einigte sich sogar auf gemeinsame Gottheiten wie Isis Noreia. Diese relative Ruhephase endete jedoch spätestens mit dem Untergang des Imperiums. Es folgten bewegte Zeiten. Ab dem 5. Jahrhundert gaben sich nacheinander Ostgoten, Alemannen und Langobarden die Klinke in die Hand, ehe am Ende des Jahrhunderts slawische Stämme ins Land zogen, um sich an der Sonnenseite der Alpen niederzulassen.
In dieser vorchristlichen Periode also eröffneten die „Zale Zene” ihre florierende Praxis unter den Taborfelsen. Sie waren Priesterinnen und Lehrerinnen des Volkes in Acker- und Bergbau, sie achteten auf den Gang der Gestirne, sie sagten die gute Zeit der Saat und der Ernte an und verkündeten die zu haltenden Feiertage. Bewandert in Heilkunst und Kräuterkunde galten sie als gutmütig und unergründlich gelehrt. Kurz und gut – die Damen erledigten ihre Aufgaben so gut und derart nachhaltig, dass sich ihr ausgezeichneter Ruf bis in die Gegenwart hielt.
Ihre alte Wirkungsstätte im Konglomerat strahlt –auch wenn der Zahn der Zeit und die Kräfte der Erosion sichtbar den Niedergang beschleunigen- noch immer eine besondere Anziehungskraft aus und überzeugt gerade infrastrukturell und wohnraumtechnisch mit klaren Vorzügen. Vom „festen Dach überm Kopf” ganz abgesehen: Die Höhle ist nach Süden ausgerichtet, verfügt über eine wunderbare Aussicht, liegt strategisch günstig, und aus einer Spalte im hinteren Bereich sprudelt frisches Quellwasser. Der vorgelagerte Hang weist ordentliches Gefälle auf, der Faaker See ist in Griffweite.
Die frühe Geschichte der slawischen Stämme in Kärnten steht leider ganz im Zeichen des Fehlens eigener historischer Quellen. Informationen über die Slawen existieren lediglich von den „Nachbarn”, also zumeist Gegnern. In der Regel kommen die bösen Heiden in der Beurteilung von guten Christen aber nicht besonders gut davon – dieser Umstand lässt so manchen Text etwas zweifelhaft erscheinen..
Um das Jahr 740 jedenfalls bekamen die Slawen nach anhaltenden Scharmützeln ernsthafte Probleme mit den Awaren (Hunnen) und gerieten gehörig in Bedrängnis. In höchster Not baten sie die Baiern um Hilfe. Diese vertrieben zwar umgehend die Awaren, in der Folge verstärkte sich jedoch der Einfluss der Baiern und Franken in Kärnten – nicht nur in politischer, sondern zusätzlich in religiöser Hinsicht. Die christliche Missionierung setzte ein…und mit dieser dürfte sich über kurz oder lang (allzu eifrige Kleriker lösten zwischendurch einen so genannten „Heidenaufstand” aus, der den Glaubenswechselprozess vom Herrn des Blitzes (der slawische Donnergott) zu Jesus Christus für einige Zeit zum Stillstand brachte) der Zauber des Kompetenzzentrums der „Zale Zene” verflüchtigt haben. Sie verschwinden, ohne sichtbare Spuren zu hinterlassen. Zurück bleiben nur die Legende und, wie schon erwähnt – der gute Ruf.
Man darf annehmen, dass die Bevölkerung die nun verwaiste Höhle wegen ihrer strategisch günstigen Lage weiterhin als einigermaßen sicheren Zufluchtsort in unsicheren Zeiten (und die Zeiten waren von zuverlässiger Unsicherheit) verwendete. Die Sicherheit der Höhle ist leider sowohl trügerisch, als auch relativ. Für einen Plan B fehlt jede Fluchtmöglichkeit – wird man von einer Übermacht belagert, sitzt man so richtig in der Falle und kann überdies problemlos ausgeräuchert werden. Dieses Manko offenbarte sich im Spätmittelalter schonungslos und endete in einem Desaster. Als die Türken im Sommer des Jahres 1478 mordend-plündernd-brandschatzend durchs Land zogen, verschanzten sich die Dorfbewohner „mit ihrer besten Habe und dem Vieh” in der laut Chronik „bewohnbaren und ziemlich geräumigen Höhle, deren Eingang (vermutlich zugemauert) mit einer eisernen Thüre gesichert war”. Ende Juli 1478 errichteten die Türken in einem kleinen Seitental nördlich des Faaker Sees (welches seither „Türkei” genannt wird) ihr Feldlager. Von hier aus durchstreiften sie mit 5000 Reitern das ganze Gebiet zwischen Drau und Mur. Am 2. August wurde die befestigte Bastion in den Felsen entdeckt, belagert und eingenommen. Die Belagerer zerstörten sie so sehr, „dass die südliche Felsenwand der Höhle nach dem Abhange hinabrollte”. Viele Menschen wurden getötet oder gerieten in Gefangenschaft, selbstredend fielen den Türken auch „die beste Habe und das Vieh” in die Hände.
Logischerweise wurde bei dieser Gelegenheit gleich die benachbarte Kirche entweiht und niedergebrannt. Die Verwüstung war so vollständig, dass das Gotteshaus erst 8 Jahre später, am 19. September 1486 (Paolo Santonino, der schriftführende Sekretär des Bischofs von Caorle – welcher als Zeremonienmeister die demolierten Kirchen der verwüsteten Regionen einweihte- beschreibt das Ereignis in seinen Reisetagebüchern), seiner früheren Bestimmung zugeführt werden konnte.
Nach der Türkenzeit geriet die Tabor-Höhle zusehends in Vergessenheit. Neben der natürlichen Erosion nagte in den frühen Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts besonders die Bautätigkeit meines Großvaters kräftig an den Felsen. Große Mengen an Konglomerat wurden mittels Sprengstoff und Erdanziehungskraft den Steilhang hinunterbefördert, dort auf Fuhrwerke verladen und als preiswertes lokales Baumaterial direkt in die Mauern eines neuen Stadels integriert.
In den späten Fünfzigerjahren lösten sich drei riesige Felsblöcke aus der überhängenden Wand und walzen auf ihrem Weg nach unten den Wald nieder. Solche Ereignisse finden dort, mit gefrorenem Wasser als Sprengmeister, bevorzugt in den Wintermonaten statt.
Im vergangenen Frühling fand ich deshalb praktischerweise ausreichende Mengen an frischerodiertem Gestein für den Bau eines Kräuterbeetes.
Zu Beginn der 70er Jahre beschlossen mein Vater und mein Onkel, das Wasser der „Zale Zene” für den täglichen Gebrauch zugänglich zu machen. Sie errichteten in der Höhle mühevoll zwei Bassins aus Betonringen und gruben eine Wasserleitung bis ins Dorf hinunter. Keine schlechte Idee, leider war die praktische Ausführung etwas mangelhaft. Die Folge waren Wasserrohrbrüche in großer Zahl, deren andauernde Reparatur mein Repertoire an Schimpfwörtern erweiterte, meine Kondition weiter verbesserte und vor allem mein möglichst sturzfreies Bergablaufen mit relativ hoher Geschwindigkeit bis zur Perfektion schulte. Einige trockene Jahre stellten die Zuverlässigkeit der Quelle und daraus resultierend die sichere Wasserversorgung des Hauses und der Gäste ernsthaft in Frage. Schweren Herzens warfen wir das Handtuch und schlossen uns ans öffentliche Wassernetz an.
Seither besitzt die „Einziedlarca” wieder den Status eines abgelegenen Quellheiligtums und es ist dort noch ruhiger geworden, als es das eh schon war. Manchmal bin ich mit meiner Motorsäge in den Wäldern unter den Wänden unterwegs, um die Opfer des Winters und der Borkenkäfer zu bestatten, und gönne mir dann bei Bedarf eine kurze Verschnauf- und Trinkpause an der Quelle. Hin und wieder, allerdings eher selten, biete ich unseren Gästen spezielle „kleine Taborwanderungen” an. Die Idee einer besonderen Abenteuerübernachtung an diesem besonderen Ort wartet einstweilen noch auf ihre Verwirklichung und ist bis jetzt stets an wenig vertrauensseligen Kandidaten gescheitert. Die sehen weniger die Romantik, sondern mehr die Gefahr.
Erfahrungsgemäß ist hier aber eh alles nur eine Frage der Zeit.