Von Hansi Mikl
Eine harmlose Gewitterbank im Westen hinderte die Sonne am geplant spektakulären Untergang. Kurz und bündig, sparsam und humorlos verschwand sie spärlich in der Farbgestaltung und damit wenig fotogen hinterm Wolkenvorhang und überlies schnell der Dämmerung die Bühne. Dafür blies ein warmer, aber kräftiger Wind, der dem abendlichen Gipfelsieg am Mallestiger Mittagskogel den Beigeschmack einer Niederlage verlieh. Auf dem Rückweg zu unserem spartanischen Camp am höchsten Punkt des Berges überfiel uns bereits die Dunkelheit.
Hannes hatte sich in Begleitung seiner Kopfschmerzen schon längst in seinem Mumienschlafsack einbalsamiert und befand sich vielleicht auf halbem Weg ins Land der Träume. Durchgeschwitzte Kleidungsstücke, an Bäumen und Stöcken befestigt, hatte der Wind längst aufgetrocknet und nun machte er sich dran, den gemütlichen Abend ungemütlich zu gestalten. Mit zunehmender Windintensität war an lauschige Gespräche mit attraktiven Aussichten beim allerbesten Willen nicht mehr zu denken. Während sich die Dämmerung konsequent zur Nacht verdichtete, wurden die Lichter im Tal zahlreicher und der Himmel begann sich zunehmend mit Sternen zu füllen. In den umliegenden Schlafsäcken raschelte es bei der allgemeinen Suche nach einigermaßen erträglichen Liegepositionen, spärlich beleuchtet vom Schein einzelner Smart-Phones hielten manche Kontakt zur Außenwelt unten im Tal oder irgendwo hinter den Bergen, andere berieselten sich mit Musik, sammelten nützliche oder unnütze Informationen, aus allen Richtungen wehten einzelne Gesprächsfetzen heran.
Übernachtungs-Bergtouren völlig „unplugged” sind für Otto Normalverbraucher bestimmt eine Gratwanderung auf den Sehnsüchten, die unweigerlich damit verbunden sind, aber gleichsam die logische Fortsetzung unserer „Dunkelheit & Stille-Workshops”, denn auch Nachtausritte, Polana-Lichter und Nachtwanderungen widmen sich derselben Thematik. Oft erblicken Teilnehmer die ersten Glühwürmchen ihres Lebens, gruseln sich beim Ruf eines Käuzchens, und wundern sich, wie man selbst durch völlige Nachtschwärze von A nach B gelangen kann. In unserem grellen Zeitalter zählen die Dunkelheit und die Stille längst zu den gefährdeten Bewusstseinszuständen: 99 % der Europäer leben unter einem verschmutzten Nachthimmel, die nächtliche Helligkeit in den Großstädten ist mittlerweile 1570mal stärker, als das natürliche Nachthimmelslicht (diese Zahlen haben ziemlich aktuell Astrophysiker der Wiener Universität errechnet). Waren einst 2500 Sterne mit freiem Auge erkennbar, so sind es heutzutage gerade noch 300. Ganz davon abgesehen wird das Ruhe-Hormon Melatonin (ein wesentlicher Baustein des tiefen Schlafes) vom Körper nur bei Finsternis gebildet. Auch aus dieser Perspektive betrachtet sind Übernachtungen in exponierter Höhenlage ein hautnaher Selbsterfahrungstrip in die natürliche Normalität. Der Ausflug in die nächtliche Bergeinsamkeit sollte außerdem unbedingt Romantik und Abenteuer beinhalten, Erfolgserlebnisse liefern, Begegnungen mit freundlichen Eingeborenen ermöglichen, hautnahe Naturerfahrungen oder wenigstens lohnende Fotomotive bereitstellen, neue Fertigkeiten in schwierigem Gelände erlernen , und…und…und. Damit wird die freudige Erwartungs-Seite einer solchen Veranstaltung bereits im Vorfeld viel zu schwer beladen (wie zB Björns Rucksack im Juli)und die Bergtour läuft unnötig Gefahr…zu einer bösen Überraschung zu werden, weil sie IMMER auch anstrengend, steinig, windig und ungemütlich sein muss, denn eine Bergtour mit 2000 Höhenmetern ist halt kein lauschiger Sonntagvormittagsspaziergang. Insofern ist der allgemeine Hype vor einer Übernachtungstour eher kontraproduktiv, ähnlich wie bei der Ehe oder der Silvesterparty. Ziemlich schwer abzuschätzen also, was den anderen zeitgleich in ihren Schlafsäcken durch den Kopf ging. Es könnte –reine Mutmaßung – ungefähr so gewesen sein:
Martin hoffte, dass die Gewitterwolken weit im Westen bleiben und alle Bären und Wölfe der Karawanken satt und zufrieden und noch weiter weg sein würden.
Jaqueline dachte über die baldige Anschaffung eines Doppel-Schlafsacks nach, der geräumig genug sein könnte, um auch Herbert darin unterzubringen.
Jaqueline formulierte aber auch wortlos ihre morgigen Reiseziele und hoffte insgeheim tief und innig, dass die Abgründe der kommende Berge nicht ganz so schwindelnd sein würden, wie ursprünglich befürchtet.
Jörg war in Gedanken ganz woanders, vielleicht auf youtube, aber noch nicht im großen Wagen.
Hannes übte lautlos, aber konzentriert in einem fiktiven Werbe-Jingle einen relativ unkomplizierten „Danke-Danke-Danke-Danke”-Refrain.
Lisa träumte, stets mit einem Finger am Auslöser ihrer Kamera ….vom bevorstehenden Sonnenaufgang.
Die Reitlehrerin überlegte, wie sie Bastian sinnvoll beschäftigen könnte.
Bastian fand sinnvoll unter diesen Umständen wenig sinnvoll, wenn nicht sogar langweilig.
Mariano entwarf Szenarien, wie er, ganz ohne Gerte, den Platz auf der Iso-Matte erobern könnte.
Ich persönlich jedenfalls empfand meine exponierte, smartphone-&handyfreie Lage nicht als akute Krisensituation und nütze die relative Stille und verhältnismäßige Dunkelheit meines Schlafsackbereiches, um einst angefangene Gedanken zu Ende zu denken, puzzleartige Ideen im freien Fall zu ganzen Projekten zu fügen oder ziemlich entspannt die Flugzeuge bei ihrer Reise von Norden nach Süden oder Westen nach Osten oder umgekehrt zu begleiten. Rechts sichelte der Mond über den Himmel, links schlief der Mittagskogel ein und Laurentius lud bereits sein Maschinengewehr durch. Ohne Smartphone nämlich kann ein alter, krisenerprobter Schlafsack ohne großen Aufwand zu einem engen, trotzdem gemütlichen und unverschämt privaten Selbsttherapieraum umfunktioniert werden. Man ist auf sich selbst reduziert und außerdem gezwungen, sich intensiv mit Bereichen zu beschäftigen, mit denen man sonst seltener konfrontiert ist: Dem Universum und der eigenen, unverschämt winzigen Befindlichkeit darin!!!!
Liegt man also mitten in der Nacht irgendwo auf einem Berg und mutterseelenalleine in einem Schlafsack, sind die Möglichkeiten begrenzt. Selten wird einem klarer, dass sowohl Vergangenheit, als auch Zukunft und sogar die westliche Zivilisation im Augenblick absolut unzugängliche Orte sind und die Beweglichkeit auch in der Gegenwart ziemlich eingeschränkt ist. Entweder man versucht zu schlafen. Was möglicherweise vernünftig wäre, aber zum Problem wird, wenn man gar nicht müde ist, und selbst wenn man es wäre, würden die Eindrücke einer Sommernacht in den Bergen den denkenden Menschen erfolgreich am entspannten Einschlafen ruhigen Gewissens hindern. Also blieb mir gar nichts anderes übrig, als mich auf mich selbst zurückzuwerfen und die vergangenen Monate aus exponierter Perspektive Revue passieren zu lassen. Dabei kann ein bemerkenswerter Selbstreinigungsprozess entstehen, wenn man sich ehrlich mit den Dingen auseinandersetzt. Eigentlich hatte ich keine Muße, aber immerhin Zeit, um das reichhaltige Sortiment an bemerkenswerten und weniger bemerkenswerten Ereignissen, mit denen mich die letzten Monate großzügig versorgt hatten….relativ unaufgeregt unter die Lupe zu nehmen. Kanalisiert man jedoch die wilde Flut chronologisch und ruhig in überschaubares Fahrwasser, erkennt man am Ende sogar irgendeinen Sinn darin. Auf die Idee wäre ich sonst wohl kaum gekommen. Jedenfalls bedankte ich mich bereits mitten in der Analyse überaus herzlich bei meinem Körper für die gute Mitarbeit, entschuldigte mich für die übertriebene Beanspruchung und nahm mir fest vor, meine Erwartungshaltungen an Jahreszeiten, Arbeitsprogramme, Ehen, Bergtouren und Silvesterparties zukünftig etwas herunterzuschrauben.
Mariano hingegen war es – richtig gemutmaßt – in unserer Mulde bald zu ruhig. Er nütze mit siegender Frechheit und ohne mit der Wimper zu zucken….eine Lücke zwischen Bastian und der Reitlehrerin. Der neugewonnene Standort bot liegekomfortmäßig mit der anvisierten dicken Iso-Matte eine deutliche Liegekomfort-Verbesserung und die kurzerhand delogierte Hippologin begab sich zwangsläufig auf Boxensuche. Weil wir uns jetzt beide offensichtlich recht allein auf der windigen Bergwelt fühlten, gewährte ich ihr nicht ganz uneigennützig umgehend Asyl. Für alle Beteiligten eine Win-Win-Situation: Zu zweit füllten wir die Mulde exakt aus, meine Schlafposition verbesserte sich ergonomisch-anatomisch wesentlich und im Paket boten wir dem Wind weitaus weniger Angriffsfläche.
Nachdem wir es uns so gemütlich wie möglich eingerichtet und eine verhältnismäßig erträgliche Beobachtungsposition gefunden hatten, wurde es über uns richtig zauberhaft, denn nach einer kurzen Ruhephase ballerte Laurentius die ersten Sternschnuppen über den Nachthimmel. Gott sei Dank quälte mich in Anwesenheit der Reitlehrerin nicht mein Unwissen über die Zusammenhänge meiner (ganz offensichtlich falschen)Zügelhaltung mit dem globalen Klimawandel. Nicht immer kennt man als Mann die Hintergründe reitender Frauen. Dafür waren mir die Vordergründe ziemlich klar, weil die Reitlehrerin ganz offensichtlich mit einer hohen Dosis Grundehrgeiz ausgestattet ist. Dieser zeigt sich nicht nur bei Galoppaden auf der Achterbahn oder bei gemischten Doppeln an der Tischtennisplatte, sondern auch in vermeintlich neutralen nächtlichen Zonen auf über 1800 Metern Seehöhe. Schon nach fünf Minuten steigerte sich die vordergründig entspannte Beobachtung des himmlischen Feuerwerks zu einem stundenlangen Wettkampf mit wechselnder Führung. Dabei präsentierte sich die Milchstraße als kosmische Wunderautobahn ohne Verkehrsregeln, auf der Sternschnuppen in verschiedenen Größen und wechselnder Attraktivität nach dem Zufallsprinzip völlig unberechenbar um die Wette fuhren. Auch die Idee, den Himmel in Sektoren aufzuteilen und somit in allen sichtbaren Ecken auf die Jagd zu gehen, brachte fette Beute. Waren gerade keine Sternschnuppen zu sehen, konnte man Flugzeuge auf ihren nächtlichen Reisen begleiten, Satelliten beobachten oder den Mond bestaunen, der aber irgendwann im Westen hinter den Bergen versank. Zur weiteren Genusssteigerung strich ich eine Dose Gösser Naturradler aus der Inventarliste meines Rucksacks, um sie so brüderlich wie möglich mit der Reitlehrerin zu teilen. Als einziger Nachteil dieses kleinen nächtlichen Umtrunks erwies sich später der wirklich unwiderstehliche Drang des Naturradlers, wieder zurück in die Natur radeln zu wollen. Was zwar mitten in der Nacht mitten in der Natur kein schwerwiegendes logistisches Problem darstellt, aber nicht ganz bequem ist, weil man deshalb den warmen, gemütlichen Schlafsack unbedingt verlassen muss. Nicht unterschätzen sollte man bei stoffwechselbedingten Notwendigkeiten in der Dunkelheit ….den in dieser lauernden Fallenparcour aus Wurzeln, Ästen, Felsen und anderen Unebenheiten. Schon gar nicht, wenn man in Nordwandnähe unterwegs ist. Zurück im Schlafsack ging die Suche nach Sternschnuppen unvermindert weiter. Erst als ich die 70 als magische Grenze passiert hatte und die Uhr nur mehr sehr wenig Schlaf suggerierte, stellte ich meinen Grundehrgeiz unter jenen der Reitlehrerin und zog als hauchdünner ungefähr 71:73-Verlierer als Reißleine den Reißverschluss des Schlafsacks zu. Keine 3 Stunden später rumorten schon wie befürchtet Basti und Mariano im Morgengrauen und mir graute im unruhigen Halbschlaf vor der feuchten Kühle und den bleiernen Farben des Morgens, die mich garantiert erwarten würden, wenn ich es wagen sollte, die Augen und den Reißverschluss zu öffnen. Obwohl man diesen Moment wirklich gerne aus seinem Katalog für unangenehme Situationen streichen würde:
Irgendwann aber siegt die Neugier auf den neuen Tag und seine Herausforderungen. Die Nacht war zu kurz, aber bereits in der etwas mühsamen Aufwachphase gehe ich im Geiste unsere Route durch, weil die auf diese Weise geweckte Vorfreude oft der beste Muntermacher ist. Der Weg aus dem warmen Mikrokosmos des Schlafsacks zurück in den Alltag führt zunächst in die klamme Realität morgenbetauter Wanderschuhe. Und selbst wenn bald die Sonne aufgehen wird, mischt sich auch etwas Melancholie in den allgemeinen Optimismus der ersten Strahlen, denn man weiß nie so genau, wann, wo, wie, warum, unter welchen Umständen und mit wem man wieder in den Schlafsack zurückkehren wird.