IRGENDWER IST IMMER SCHNELLER !!!

DIE SANDUHR LÄUFT AUCH AUF DER CIMA DI TERRA ROSSA
von Hansi Mikl

Mit erhobenem Zeigefinger und ernstem Gesichtsausdruck werde ich dauernd an den schonenden Umgang mit meinen physischen und psychischen Ressourcen erinnert und ermahnt, irgendwann und vielleicht noch rechtzeitig Pausen einzulegen.
Zugegeben, da ist was dran und ich träume schon lange von ruhigeren Zeiten und so etwas wie Urlaub. Die Realität sieht freilich anders aus und gutgemeinte Ratschläge können die chronischen Gratwanderungen über dem drohenden Burn-out nicht wirklich verhindern. Meine Schockverarbeitungskapazität hat sich in den letzten Wochen noch weiter erhöht, 2006 als Jahr ist definitiv ein Griff ins Klo. Auf meinen Alltag umgelegt bedeutet das: noch mehr Anstrengung als sonst und daraus resultierend folgerichtig noch weniger Erholung ! Sie denken sich “kann so arg nicht sein”, den letzten Sonntag hatte ich irgendwann im Frühling und der letzte echte Urlaubstag war der 25. September 1999. Ein Samstag übrigens. Nichtsdestotrotz wäre mir die kleinbürgerliche Standardregeneration in Form von Wellnesswochenenden oder Städtereisen nach dem Zufallsprinzip schlicht und ergreifend zu langweilig. In irgendwelchen Esoterikworkshops werde ich neue Lebensstrategien, Lösungen und Antworten weder suchen, noch finden. Die Existenz bleibt ein Experiment mit vielen Fragezeichen. Immerhin, der 10. Oktober findet ohne Traktor, Spaltaxt, Motorsäge oder anderes Werkzeug statt und Bergtouren mit Günter Decleva beinhalten traditionell ähnliche Anklagen mit sozialem Aufforderungscharakter: Du musst dein Leben wirklich ändern !!!!!!!! Klingt gut, aber wie soll das funktionieren ? Zur Abwechslung nicht weniger als 8 Stunden Auszeit. An einem so strahlenden Oktobermorgen scheint die Welt in der Waagrechten und sieht verdammt hell und bunt aus. Keine Wolke am tiefblauen Himmel. Wir sind diesmal zu Dritt. Josef Kircher wird unsere kleine Männerseilschaft anführen und unser Ziel ist die Cima di Terra Rossa irgendwo südwestlich von Tarvisio. Schon die Funktion als Beifahrer sollte ein wenig Entspannung garantieren. Günters Fahrstil kann man bei aller Sympathie nicht tagtraumähnlich verklären, die Landschaft fliegt viel zu schnell vorüber und bis Tarvisio sind bestenfalls erste Details besprochen. Wir biegen nach Südwesten ab, schon bald ist die Umgebung wildromantisch und jeder Blick aus dem Fenster wird sofort belohnt. Lediglich mit Cave del Predil (Raibl) absolviert man zwischenzeitlich eine strenge Übung. Diese alte Bergbausiedlung im Schatten hoher Berge erzeugt im Vorbeifahren immer eine merkwürdige Form der Nostalgie und im sichtbaren wirtschaftlichen Niedergang kurzweilige Gedanken an bessere Zeiten, die es vermutlich nie gegeben hat. Ein kleiner Trost ist der benachbarte Cap Cinque Punte (Fünfspitz), ein markanter Berg im Nordosten, der auf Josefs Wunschliste ganz oben steht. Im Lago del Predil (Raibler See) spiegeln sich die Sonne und der bunte Mischwald, die Strecke bis Sella Nevea ist ein dünnbesiedeltes Paradies, welches uns unserem Ziel rasch (Günter fährt…) näherbringt. In Sella Nevea ein kurzzeitiger Abstecher in die Zivilisation, eine Skistation auf 1190 Metern. Nicht wirklich bemerkenswert, aber die schattige Abfahrt sieht beängstigend selektiv aus (dort fanden immerhin Europacup-Rennen und Juniorenweltmeisterschaften statt). Wir verlassen den Ort schon mittendrin, über einen steilen Weg quält sich das Auto bis zur Pecco-Alm auf ca. 1600 Meter. Die Weitläufigkeit des Geländes erkennt man erst langsam im Aufstieg, das Weidevieh ist längst in die Täler zurückgekehrt und hat den Wanderern Platz gemacht. Wir sind umzingelt von schroffen Höhen und direkt vor uns türmt sich scheinbar eine einzige breite Felswand auf. Der Schein trügt allerdings gewaltig, schon bald zerfällt die Mauer in einzelne attraktive Gipfel. Der Platzhirsch hier ist ganz links der Jof di Montasio (Montasch) mit immerhin 2753 Metern. Rechts davon befindet sich die klangvolle Cima di Terra Rossa (2420 Meter). Beim Schultern der Rucksäcke erläutert Josef die Aufstiegsroute. In der steilen Wand ist sie nicht ansatzweise erkennbar. Der Fels ist baumlos, mit abschüssigen Grasbändern gestreift, da und dort liegt erster Schnee. Günter und Josef sind zwar schon in Pension, aber ihre Reisegeschwindigkeit ist prinzipiell jugendlich und hat in Verbindung mit dem Gelände und der wärmenden Vormittagssonne absolut nichts mit Regeneration, Urlaub oder Erholung zu tun. Könnten Sie Günter jetzt sehen, Sie würden es nicht für möglich halten, dass er mit künstlichem Kniegelenk unterwegs ist. Wir benützen teils befestigte, schmale Pfade aus den Zeiten des ersten Weltkriegs, die sich serpentinenartig an der Felswand entlangschlängeln. Relativ komfortabel, einzelne Passagen mit Schnee erfordern jedoch höchste Konzentration, denn ein eventuelles Abdriften hätte ein kurzes Nah- und Fernweh zur Folge, welches nach unzähligen Überschlägen tief unten auf der Alm ein garantiert endgültiges Ende finden würde. Das beständige Gewinnen an Höhe lässt in der Bewegung nebenbei viele Gedanken zu und unvermutet stellen sich mit ständig wechselnden Panoramen neue Glücksgefühle ein. Diese weichen zwangsläufig einer gewissen Nachdenklichkeit, als wir an einer Scharte auf Reste einer befestigten Stellung aus dem ersten Weltkrieg stoßen. Direkt daneben wurde ein kurzer, tunnelartiger Raum in den Fels geschlagen, der kühlen, feuchten Schutz bot. An lange Wintermonate in dieser Höhle möchte ich lieber nicht denken. Mir bleibt sowieso keine Zeit dazu, denn Josef präsentiert hinter dem nächsten Felsvorsprung den ersten absoluten Höhepunkt der Tour. Die Wand öffnet sich unverhofft und macht den Blick nach Norden frei: vor uns der Wischberg (Jof Fuart, 2666 Meter) und seine Kollegen ! Allesamt grob herausgemeißelte Klötze in kaltem Blaugrau- wild, respekteinflößend und doch unwiderstehlich anziehend. Das “Götterband” des Wischberg wäre zweifellos ein Abenteuer, bei dem in keinem Rucksack eine XL-Windel fehlen sollte. Hier heilt die Zeit nicht alte Wunden, sie schlägt gnadenlos neue und schlechtes Gewissen ist die Leitwährung, die ich für die bisherige Ignoranz dieser Berge bezahle. Der Anblick scheint zwar zeitlos-endgültig, doch die Sanduhr der Erosion läuft nicht nur für uns, sondern auch für die Cima di Terra Rossa. Der Gipfel ruft. Ein wenig Kampf schadet nie, die letzten Höhenmeter sind ganz nach meinem Geschmack. Sie bringen weiteren Schnee und extrabreite Aussichten nach Westen. In diesem Stil könnte es weitergehen, tut es aber nicht. Wir sind schon oben und abgehängte Verfolger schwärmen später in höchsten Tönen von unserem Tempo. Josef hält nicht viel von Schmeicheleien und kontert nüchtern: “Irgendwer ist immer schneller”. Knallharte Lebensweisheiten auf 2420 Metern. Ich hätte die Kehrseite der Medaille verwendet: “Irgendwer ist immer langsamer…”. Letztlich bedeutungslos, irgendwann holt uns die Vergangenheit trotzdem ein. Es ist fast völlig windstill, in der gegenüberliegenden Südwand des Montasch wird bohrend an einem Klettersteig gearbeitet und der Lebenszyklus zweier Äpfel aus unserem Obstgarten endet im intensiven Rundumblick.

Anappleadaykeepsthedoctoraway denke ich mir noch, Günter tastet mit dem Fernglas sämtliche Himmelsrichtungen ab, Josef erklärt mit Anekdoten versetzt verschiedenste Routen in näherer Umgebung. Der Montasch wäre extrem reizvoll, befindet sich aber diesmal zeitlich außer Reichweite. Immerhin stellt mir Josef trostpflasternd den Foronon del Buinz (2531 Meter) in Aussicht, schränkt allerdings wegen des Schnees im unwegsamen Gipfelbereich vorsichtig ein. Auf der Cima di Terra Rossa wird es langsam voller, wir räumen das Feld. Zunächst nehmen wir die Aufstiegsroute, um dann irgendwo in der Wand nach Südosten zu verlängern. Es stellt sich bald die wohltuende Mühelosigkeit eines fast waagrechten Pfades ein. Grundsätzlich bin ich ja gegen Wellness, aber immerhin – hier herrscht kein zweibeiniger Gegenverkehr mehr, unsere aktuellen Begleiter sind zahllose Steinböcke in verschiedenen Größen. Mit geradezu lässiger Selbstverständlichkeit grasen sie über den Abgründen und flitzen über schmalste Felsstufen. “Irgendwer ist immer schneller”. Ich hätte es anders formuliert: “Irgendwer ist immer langsamer….”. Freundlicherweise lassen sie sich wenigstens fotografieren. Geben Sie´s doch endlich zu – selbst das theoretische Mitleiden vorm Computer irgendwo in einer Fünf-Zimmer-Wohnung in der Berliner Innenstadt ist in solchen Momenten nur schwer auszuhalten. Umgekehrt können Sie in der passiven Computer-Position gleichzeitig dafür und dagegen sein und sie können aussteigen wann immer Sie wollen. Zurück auf den Weg zum Foronon del Buinz. Er wird langsam wieder steiler und selektiver. Die hier erbauten Felsformationen wirken, als hätten sich Antonio Gaudi und Friedensreich Hundertwasser hemmungslos ausgetobt. Mit der Forca de lis Sieris erreichen wir auf 2274 Metern einen unwirklich schönen Ort. Eine Scharte, an die man sich ein Leben lang erinnern wird, direkt unter dem stark ansteigenden Schlussanstieg auf den Foronon del Buinz. Das Finale Grande liegt völlig im Schatten und scheint mit kompaktem Schnee bedeckt. Vorerst gönnen wir uns ein kurzes Päuschen in der Nachmittagssonne. Wir lagern unmittelbar vor einer weiteren gemauerten Stellung, im Eingangsbereich liegt noch dunkel-schimmernde Steinkohle. In dieser Höhe in den Kriegswintern war die Existenz wohl auch nur ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Nullkomfort, aber grandiose Aussicht und so Dinge wie Klimawandel, Ozonloch, BSE, Vogelgrippe oder Globalisierung existierten nicht einmal in Jules Vernes wildesten Phantasien. Spezielle Wundermittel zur baldigen Weltrettung gab es weder damals, noch heute. An solchen Tagen sollte man sich nicht zu ausführlich mit der Frage beschäftigen, wie die Welt und das Leben besser aussehen sollten. Ich schätze aber, die einstigen Unglücksraben, die diese Stellung halten mussten, werden ebenfalls darüber nachgedacht haben. Josef und Günter sind eher mit ihrem Proviant beschäftigt, in Ermangelung von Hunger und Durst teste ich in der Zwischenzeit die Schneebeschaffenheit im Schlußstück. Der optimistische Versuch endet schon bald realistisch – der vermeintlich kompakte Schnee ist nämlich mit einer Eisschicht überzogen, die einen Aufstieg in diesem steilen Gelände ohne Steigeisen und Pickel lebensgefährlich macht. Erwartungsgemäß siegt die Vernunft. Na ja, es ist ja nicht die erste Niederlage und bestimmt nicht die letzte. Und das Beste am bitteren Nachgeschmack: der Foronon del Buinz ist immer frei zugänglich. er läuft nicht davon (so schnell ist die Erosion nicht) und der Blick zurück wird mit dem folgenden Foto konserviert.
Nachdem ausgiebig ideologischer Trost dieser Art verbreitet wurde, wird die Forca de lis Sieris notgedrungen zur Hauptbeschäftigung. Günter macht sich langsam auf den Heimweg, während Josef und ich magisch von einem exponierten Plateau ein Stück oberhalb des Unterstandes angezogen werden. Wir erliegen der Versuchung und klettern hinauf. Die Mühe lohnt sich, denn dieser Platz bietet gewaltige Aussichten in senkrechte Felswände. Unter uns öffnet sich ein gähnender Abgrund, die Abbruchkante ist hier gleichzeitig Grenzmarkierung. Beim nächsten falschen Schritt würde ultimativ die Schwerkraft triumphieren und freundliche Hilfsangebote – nachträglich unterbreitet – könnte man wohl nicht mehr annehmen. Dabei ist präventives Sicherheitsdenken sonst nicht mein Fall. Glauben Sie mir, ich habe niemals Sandburgen gebaut, um sie vor den herannahenden Wellen des Meeres zu retten. Der Absturz aus dem adlerhorstähnlichen Wolkenkuckucksheim folgt zu schnell. Wir müssen zurück. Beim Abstieg wird über Aktmalerei, entsprechende Modelle und die körperlichen Folgen von Leistungssport diskutiert. Bergtouren mit Günter Decleva und Josef Kircher sind effektives Ausdauertraining und wirken sich positiv auf den Blutdruck, die Blutgefäße und den Cholesterinspiegel aus. Durch das hohe Tempo und die dünnere Luft ab 1600 Meter Seehöhe wird die Atemfrequenz erhöht, das Balancieren in extremem Gelände schult den Gleichgewichtssinn, beim Fachsimpeln über die geschlechtstypischen Vorzüge weiblicher Aktmodelle werden Glückshormone freigesetzt und die Heimfahrt wird in wenigstens zwei Trattorias unterbrochen. Molto bene, werden Sie denken. Leider schätze ich Rotwein bestenfalls als Salatmarinade. Wenn überhaupt. Nun muss man eine womöglich intelligente Ausrede konstruieren. Einfach nur “Cosi fan tutte” sagen reicht da nicht ganz. Also sage ich “Lago del Predil”. Und es klingt sogar plausibel.