von Hansi Mikl
Der Rombon. Veliki vrh (großer Gipfel) nennen ihn die Einheimischen. Ich habe oft an ihn gedacht. Ich habe sogar von ihm geträumt und mich gefragt, wie er wohl sein würde. Was ich denken, sehen, fühlen würde, wenn ich ihn kennenlerne. Es war höchste Zeit.
Der Rombon ist ein wildzerklüfteter, riesiger Karstbrocken im Nordosten Sloweniens. 2208 Meter hoch erhebt er sich respekteinflößend über den Dächern und dem Becken von Bovec. Eine gigantische Felsbastion mit Kratern, Dolinen, Höhlen, mystisch-mediterran anmutenden Buchenwäldern, bunten Almwiesen. Spuckewegbleibende Nordwände, die fast senkrecht in den Mozencagraben abstürzen. Berühmt für seine tiefen Höhlensysteme und Unterwelten. Berüchtigt als einer der Blutberge der Isonzo-Front im 1. Weltkrieg. Exakt dort kämpfte vor über 90 Jahren mein Großvater wohl weniger für Gott, Kaiser und Vaterland, Ruhm und Ehre, sondern in erster Linie um sein Überleben und um die Chance, zu seiner Familie zurückzukehren. Wäre er gefallen, säße ich jetzt nicht am Computer.
Die Vorbereitung auf diesen Berg ist das exakte Gegenteil von ideal. Heuarbeit und Migräneanfälle an den Vortagen und nach gerade 4 Stunden Schlaf beginnt der 5. Juli 2008 bereits um 3Uhr40. Um diese Uhrzeit hält man das Signal des Weckers für einen schlechten Scherz und führt sich bleiern die Zahl der Höhenmeter vor Augen, die zu absolvieren sind, wenn man nach kurzer Auseinandersetzung mit dem Sandmann und schneller Gewissenserforschung die warme Bettdecke zur Seite wirft: 3500. In Worten: Dreitausendfünfhundert. 1700 hinauf, 1800 hinunter.
Meine Begleiter sind nicht nur handverlesen, sondern sehr pünktlich. Udo Herzmanns Qualitäten kenne ich zur Genüge von exzessiven Eisesswettbewerben bzw. aus der Mangart-Südwand und mein Neffe Christian ist für mich wie ein ständiger Blick in den Spiegel.
Wir starten im Morgengrauen. Udo ist am Lenkrad und am Autoradio. Den Ö3-Mainstream erträgt er bis kurz vor Cave del Predil, dann erlöst uns eine Queen-CD von erlittenen akustischen Qualen. „Innuendo” wirkt etwas authentischer, wenn das Auto unter gähnenden Abgründen und morgengrauen Felswänden entlanggleitet. Kurz nach 5 wird an der Flitscher Klause eingeparkt. Die altösterreichische Festung steht an einem strategisch genialen Ort, denn die steil abfallenden Hänge des Rombon und der Krnica lassen gerade noch Platz für unseren Parkplatz, das Fort, die Straße und eine tiefe Schlucht, die schon seit Jahrtausenden unermüdlich vom Wasser der Koritnica bearbeitet wird.
Ein rustikal in den Fels gehauener Weg führt zur düsteren Einstimmung gleich durch einen feuchten Tunnel, gutgetarnt und fast unsichtbar zu einem weiteren Stolperstein potentieller Angreifer ausgebaut. Mit dem ersten Tageslicht geht es durch einen dschungelartigen Märchenwald über leichte Serpentinen hinauf zum Fort Hermann. Verschlechtbessernde Motorsägen haben die wild wuchernde Vegetation ziemlich unsensibel entfernt und der Ruine den Zauber einer vergessenen Inka-Festung genommen. Mit etwas Gänsehaut bewegen wir uns betont langsam durch das Gemäuer, an dem nach italienischen Granaten nun verbissen der Zahn der Zeit nagt. Von den Decken tropft das Wasser, aus den Fensteröffnungen wachsen kleine Eschenschösslinge, der alte Putz blättert traurig von den Wänden. Es ist wie in einer Gruft, faszinierend und beklemmend gleichzeitig und wenn ich daran denke, dass genau hier der lange Weg meines Großvaters durch seine persönliche Hölle begann, bekommt die Szenerie eine persönliche Note, die man nur schwer in Worte fassen kann.
Ein sonderbares Gefühl begleitet mich hinauf durch ausgedehnte Laubwälder. Der nächtliche Regen und die Sonneneinstrahlung sorgen für extreme Luftfeuchtigkeit und ein feuchtes T-Shirt. Udo nimmt diesen Umstand wohlwollend mit zufriedenem Grinsen zur Kenntnis. Der selektive Weg führt in endlosen Serpentinen bergauf und wirkt selten begangen, an manchen Stellen sind die alten Befestigungen aus Naturstein noch in erstaunlich gutem Zustand. Nur selten gestatten die Bäume einen Blick in die umliegende Bergwelt und wenn doch, lässt mich meine Orientierung sträflich im Stich. Auf Höhe von Kote 1313 erreichen wir einen zauberhaften Ort mit Filmkulissenpotenzial: Ein fast unwirklich anmutender Buchenwald, dessen Boden mit dekorativen Kalksteinen übersät ist. Das Spiel von Licht und Schatten sorgt für reizvolle Zusatzeffekte und der Abschied nach einer kurzen Rast fällt uns schwer.
Wenig später ist die Waldgrenze erreicht und wir müssen durch ausgedehnte Almwiesen, die bunt und üppig ständige Fotomotive liefern und die man bestimmt als alpine Kräutergärten bezeichnen könnte. Da und dort verliert sich der Weg fast im hohen Gras, welches den Nachtregen unaufhörlich an Jeans und Schuhen abstreift – bereits nach kurzer Zeit bin ich in mobilen Swimming-Pools, Größe 43 unterwegs. Mit Hilfe von noch intakten Trockenmauern werden Geländeübergänge bewältigt, allenthalben passiert man mit gebotener Vorsicht tiefe, mit Schnee gefüllte Schächte, aus denen der Rombon kalt durchatmet.
Weiter oben laufen wir unvermittelt in ein weitläufiges Labyrinth aus teils noch gut erhaltenen, buchstäblich in die Topographie geklebten österreichischen Stellungen. Aufgeschichtete Steinmauern, Stufen, Bunker, Höhlen, Zisternen und Kavernen soweit das Auge reicht. Willkommen auf Großvaters Schlachtfeld. Ein abstraktes Bühnenbild eines echten Dramas, welches beim genauen Hinsehen noch erschütternder wird. Die Steinbauten scheinen sich zwar mit der ursprünglichen Landschaft zusammengerauft zu haben und verschmelzen fast mit ihr, aber dazwischen findet sich das Grauen rostend in Form von Projektilen, Granatsplittern und anderen Metallteilen. Hier lagen sich tausende Österreicher und Italiener in den Jahren zwischen 1915 und 1918 gegenüber. Unzählige Male versuchten die Italiener, diesen Berg zu erobern. Es gelang ihnen nie und der Kampf erstarrte zum erbitterten Stellungskrieg.
Aus dem Tal ziehen langsam Nebelfetzen herauf und breiten sich wie dünne Leichentücher über die einstigen Todeszonen. Der Nebel nimmt nicht nur den Blick ins Tal, er raubt die restliche Orientierung und auf dem weiteren Weg nach oben bleibt der Gipfel des Rombon ein Unbekannter. Wie weit, wie hoch, wie steil ? Keine Ahnung.
Wir machen Rast im Trümmerfeld. Bei Almdudler, Haselnussschokolade, leichtem Gebäck und Landjägern wird unser schweres Gepäck leichter. Ablenkend kümmert man sich um Details, übt sich in heiteren Gesprächen und verfällt ein wenig in herbe Depressionen unwiederbringlicher Augenblicke. In den historischen Trockenmauern siedelt lebensbejahende, bunte Flora und spendet vor allem Udo, der begeistert fotografiert, ein wenig Trost.
Die Überreste des Krieges begleiten uns gnadenlos bis zum Kamm hinauf. Wenigstens gibt der Nebel zumindest den Blick nach Westen bzw. Nordwesten frei. Nichtsdestotrotz drückt die feuchte Novemberatmosphäre auf die Stimmung. Der Weg wird steiler und schmaler und unser Ziel bleibt ungewiss. Wie aus heiterem Himmel sind wir plötzlich, völlig unspektakulär und unvorbereitet auf dem Gipfel. Dort fehlen ein Gipfelkreuz und ein Aha-Erlebnis. Wenigstens räumt der Westwind die Aussicht ein wenig frei, aber so ein Gefühl wie Zufriedenheit will sich einfach nicht einstellen.
Christian und Udo haben es sich in einer windgeschützten Nische bequem gemacht, wühlen in den Rucksäcken, schießen Erinnerungsfotos und genießen die Aussicht, während ich aus Tradition einmal übers mit Felsbrocken und Stellungsresten übersäte Gipfelareal galoppieren will. Normalerweise funktioniert das ganz gut, diesmal endet der Versuch mit einem kapitalen Sturz. Im Flug kann ich mein Gesicht noch an einem scharfen Kalkstein vorbeimanövrieren, das linke Knie kracht aber frontal gegen einen weiteren Felsen. Im Hintergrund schimpft der entsetzte Udo, der Schmerz lässt kaum nach und zum allerersten Mal in meinem Leben frage ich mich: Wie komme ich jetzt ins Tal ?
Die Frage ist nicht ganz unberechtigt, denn bis Bovec sind es 1800 Höhemeter durch eine Karstlandschaft. Die Schwellung kommt sofort und macht ein Abwinkeln des Knies unmöglich. Die ersten Testmeter lassen mich eine böse Prellung und harte Konfrontationen mit dem steilen Gelände diagnostizieren. Doch nur in solchen Auseinandersetzungen formt sich so etwas wie Identität und Selbstbewusstsein. Dementsprechend beiße ich die Zähne zusammen und lasse bei Christian und Udo keine Zweifel aufkommen.
Der Abstieg wird zur strengen Übung, diverse Muskeln helfen beim Improvisieren, aber speziell die Passage hinunter zur Cukla wird mir wohl ewig als Gratwanderung in Erinnerung bleiben. Im wilden Geröllfeld dorthin findet Udo den zerfetzten Rest eines menschlichen Oberschenkelknochens.
Umherliegende Granatsplitter bereiten uns drastisch auf die Cukla vor. 1766 Meter hoch erhebt sie sich südwestlich des Rombon-Gipfels. Ein blutiger Schauplatz heftigster Auseinandersetzungen, der Weg führt uns mitten durch die alten Stellungen. Wir passieren schaurige Relikte inmitten einer kargen, wildromantischen Umgebung und nicht zuletzt durch den persönlichen Bezug zu diesem makabren Ort frage ich mich unweigerlich: Worum geht es denn im Leben ? Und wie kommt man mit dem Rest seines Lebens klar, wenn man diesen Wahnsinn hier überlebt hat ? Wie funktioniert das, Großvater ?
Vielleicht hat alles seine Zeit und seine Stunde. Geboren werden. Sterben. Dinge aufbauen, Dinge zerstören. Menschen kennenlernen, Menschen vergessen. Falsche Entscheidungen treffen, richtige Entscheidungen treffen. Verlieren. Gewinnen.
Es hätte eine schöne Bergtour werden können, wäre sie nicht so persönlich und in jeder Hinsicht schmerzhaft. Die Sinnfragen erübrigen sich besonders bergab, denn der Kopf beschäftigt sich mit dem Knie und der daraus resultierenden Frage: Wie weit noch bis Bovec ? Wohltuend ist die völlige Menschenleere, Flora und Fauna am Wegesrand sind gleichermaßen fremd und vertraut. Akustisches Highlight sind kleine, braungraue Grashüpfer, die sich mit dem Geräusch von untermotorigen Hubschraubern in der Julisonne ihre Flugbahnen und Landepunkte zwischen den Kräutern suchen.
Die vielversprechende Zukunft wird mit den größer werdenden Häusern von Bovec fast greifbar. Mit einigen abgelegenen alten Höfen erreichen wir erste Vorposten der Zivilisation. Hier scheint die Zeit stehengeblieben zu sein, man erkennt es an fast archaisch anmutenden Details der Architektur und der Gerätschaften. Wiesen und Grundstücke sind mit Steinmauern eingezäunt.
Unmittelbar ober dem Ort werden eifrig Wochenendhäuser im Wald versteckt – untrügliches Zeichen für den Tourismus, der mit diversen exotischen Trendsportarten im bislang noch ruhigen Tal Einzug hält. Überall wird erneuert und renoviert, mit den Kompressoren lärmt die neue Zeit. Der Übergang von alpiner zu mediterraner Lebensweise, der schon unterwegs in der Tier- und Pflanzenwelt augenscheinlich war, setzt sich hier im Ortsbild fort.
Udo bestattet den Knochen des unbekannten Soldaten in der Tourismusinformation, in einer benachbarten Konditorei gönnen wir uns ein Eis. Tränen trocknen schnell, unsere T-Shirts auch, denn der Rest der Strecke ist (ich möchte das Wort ausdrücklich Udo Herzmann widmen)…hausfrauentauglich.
Wir verlassen Bovec schon bald und schlagen uns gefühlmäßig in etwa querfeldein. Erwähnenswert an dieser Stelle wäre das Panorama nach Nordosten – der Svinjak, ein sonderbar geformter Berg, scheint, umrahmt von blauem Himmel und weißen Wolken direkt aus einem Gemälde von Paul Gauguin gestohlen. Erwartungsgemäß schmieden Udo und Christian bereits Pläne zu seiner Ersteigung.
Aus dem gefühlsmäßigen Weg wird irgendwann ein markierter Weg, der uns schattig am Hang, fast parallel zur Koritnica, die man niemals sieht, aber ständig hört, zur Flitscher Klause zurück führt. Ein letzter steiler Anstieg, dann sind wir nach fast 12stündiger (Tor)Tour zurück am Auto. Auf der Heimfahrt halten wir noch kurz für einen letzten Blick zurück. Über uns der Rombon mit seinen Nordwänden und aus dem Autoradio dröhnt in klassischer Herzmann-Theatralik „We are the champions”.
Es gibt Tage, die man nicht vergessen wird. Dieser war ein solcher.