von Hansi Mikl
In einem Punkt sind sich der Patient und der Psychiater immer einig: Wir sind möglichst dort unterwegs, wo die Massen nicht sind. Meistens spiele ich den Berg- und Tal-Führer, diesmal jedoch…
…wählt Sigmund Freud das Ziel der Reise, womit Spannung bereits im Vorfeld garantiert scheint. Schon als mich mein Psychiater am Vorabend der Tour in die exakten Pläne einweiht, ist mir völlig klar, dass mich dieser Trip entweder ziemlich nachdenklich stimmen wird, oder die Alpträume nach dem Aufwachen weitergehen könnten. Von Lebensgefahr allerdings ist in der Beschreibung nicht unbedingt die Rede, Medikamente und ein Erste-Hilfe-Koffer fehlen in den Rucksäcken. Mutmaßlich soll an einem trüben Oktober(donners)tag im Kleinformat möglichst kostenschonend, kraft- und zeitsparend die Umrundung des Kailash nachgespielt werden: Am Originalschauplatz sind bekanntlich in einer Höhe von 5000 Metern 53 Kilometer zu absolvieren und um zur direkten Erleuchtung zu gelangen, sollte der konditionsstarke Pilger den Kailash wenigstens 108mal umwandern. Sinnvoll wäre es im Jahr des Pferdes, denn da zählt jede Runde sechsfach.
Im richtigen Leben des Hier und des Jetzt kommt mir das Pferd schon vor der Tour abhanden: Mentos, unser eben erst neuzugangenes Haflingerhengstchen überwindet den Koppelzaun und verschwindet auf der (natürlich vergeblichen) Suche nach seiner Mutter in dichten Morgennebeln. Irgendwo auf der Hauptstraße nach Faak stellt dann zufällig ein Hufschmied den blonden Ausbrecher und bringt ihn fest angeleint zurück. Diese Aktion kostet nicht nur Nerven und Energie, sondern auch Zeit und deshalb startet die Expedition zum Monte Re mit leichter Verspätung.
Völlig unspektakulär geht es über die Autobahn bis Tarvisio, von dort Richtung Süden in die Berge. In Riofreddo endet die Fahrt, wir parken direkt neben einer Kapelle. Diese scheint offensichtlich nach dem Motto „Der Glaube und die Hoffnung sterben zuletzt” und trotz eines kuriosen, aufs Minimum reduzierten Glockenturms das einzige halbwegs ansehnliche Gebäude der kleinen Örtlichkeit zu sein. Am rostigen Rest nagen mit vereinten Kräften und großem Appetit der Zahn der Zeit und die chronisch gewordene Wirtschaftskrise, die um den Monte Re herum schon seit Beginn der 90er-Jahre ihr Unwesen treibt. Mit dem Schließen der großen Mine zu jener Zeit setzte in Ermangelung von Arbeitsplätzen und Perspektiven eine bis heute andauernde Abwanderungswelle ein. Einige Unentwegte halten zwar noch als Pendler, Marktlückenfinder oder Lebenskünstler die Stellungen, sehen sich aber zur Gestaltung eines optimistischen Ortsbildes längst nicht in der Lage und so entbehrt die freundliche, gleich viersprachige Willkommenstafel „Benvenuti a Riofreddo” nicht einer tiefen, aber sehr menschlichen Ironie. Humor ist wohl, wenn man trotzdem nicht frustriert ist.
Der Streckenverlauf jedenfalls scheint exakt unseren Vorstellungen zu entsprechen: Spaß, Spannung und Unterhaltung scheinen garantiert und so wie es hier aussieht, werden wir es sein, die ab sofort die erste Spur des Tages ziehen. Eine anspruchslose Schotterpiste begleitet den gleichnamigen Rio Freddo (dessen Wassertemperatur exakt dem Namen entspricht) gemütlich an der Westflanke des Monte Re entlang nach Süden. Wenig landschaftsbildend, aber sauberen Strom erzeugend verläuft dort eine massive Druckrohrleitung bis in den Ort hinunter. Der Monte Re und seine attraktiven Nachbarn haben sich zum ungestörten Nachdenken in tiefhängende Wolken verzogen, die nur zeitweise kurz auflockern. Auch unsere Gespräche entwickeln sich ähnlich geerdet und verlassen in der zunehmend kanadisch anmutenden Landschaft nur selten den steinigen Boden der Tatsachen. Schon bald gesellt sich zum Rauschen des Wassers der zunehmend lauter werdende Lärm von Motorsägen und Baumaschinen. Die starken Regenfälle des Sommers haben den Wegen stark zugesetzt, das brüchige Terrain wird hier wohl auch in Zukunft große Probleme verursachen.
Im oberen Bereich gestaltet sich das Valle di Riofreddo zunehmend malerisch, wir legen an einer Weggabelung eine erste Pause ein. Der Proviant wird getestet (eher Quantität, als Qualität), die Karten werden studiert, Zeitpläne werden erstellt. Es gilt nun, den Rio Freddo zu überqueren und am anderen Ufer den Weg über den Sella delle Cave nach Cave del Predil zu finden. Während ich flussaufwärts nach einer gangbaren Furt suche, hat Dr. Wassermann flussabwärts längst lässig übergesetzt und winkt mich mit eindeutigen Handzeichen zu sich. Was dort dann leider fehlt, ist der gesuchte Wegverlauf scharf nach rechts. Wir schlendern in Ermangelung eines solchen kurz talwärts, um dann endlich nach rechts einem undeutlichen Pfad irgendwo im Bereich des Canale della Breccia durch einen wüsten Graben steil bergauf zu folgen. Weil die Gegend zunehmend apokalyptisch erscheint und der undeutliche Pfad längst unsichtbar geworden ist, stehen wir irgendwann irgendwie im Nirgendwo. In der Schlucht schließen sich die Felswände und machen ein Weiterwandern entweder unmöglich oder zu russischem Roulette. Links geht gar nix. Rechts führen brüchige und unverschämt steile Rinnen hoch hinauf auf einen Kamm, von dort aus müsste man dem Kartenmaterial zufolge in südwestlicher Richtung früher oder später auf den gesuchten, aber nicht gefundenen Weg nach Cave del Predil stoßen. Eine vernünftige Alternative für Vernünftige wäre quasi als Fehlereingeständnis eine Umkehr hinunter zum Fluss. Gerade in solchen Augenblicken lernt man Menschen, die man gut kennt, noch viel besser kennen. Warum auch immer – der Doktor entscheidet sich gegen eine Umkehr und für die fragwürdige Direttissima durch die abenteuerliche Rinne !!! Weil man als Patient ärztliche Anordnungen in Notfällen besser befolgen sollte, bin ich natürlich mit von der Partie.
Lediglich die Routenwahl unterscheidet sich geringfügig. Während sich Dr. Adrenalin über die bewurzelten Steilstufen am linken Rand der Rinne bergauf kämpft, arbeite ich mich in der Mitte durch. Beide Varianten haben wenige Vor- und viele Nachteile, entsprechen aber 1:1 unserem Naturell. Wir bleiben meist in Blickkontakt, schweben aber trotz Respektabstand in latenter Gefahr, denn beide Varianten überzeugen durch zünftige Absturzmöglichkeiten. Der Rest der Welt wird völlig ausgeblendet und man ist zu 100% auf sich selbst und seine Fähigkeiten angewiesen. Jeder Schritt muss sehr bewusst gesetzt werden, mit einem Plan B im Hinterkopf. Als wir den Kamm erreichen, sind unsere Frisuren etwas in Unordnung geraten und die T-Shirts nicht mehr ganz trocken.
Die steigende Sehnsucht nach Cave del Predil begleitet uns weiter durch unwegsames, aber nicht mehr ganz so dramatisches Gelände. Wir bewegen uns, vereinzelten Wildwechseln und unserer Logik folgend durch alte Mischwälder, queren einige Gräben und versuchen uns dabei möglichst in südwestlicher Richtung zu halten. Einerseits ist diese Ausgesetztheit eine bereichernde Erfahrung, andererseits steigt in unserer kleinen Zweierseilschaft schön langsam die Ungeduld, denn der gesuchte Weg taucht in der Wildnis noch immer nicht auf. Als wir ihn dann endlich finden, ist die Erleichterung groß, weil wir spät, aber doch zurück in der Spur sind.
Bald schon sitzen wir relativ mühelos oben am Sattel und von dort geht es steigbügelartig ziemlich entspannt auf durchwegs bewaldeten Serpentinen bergab in Richtung Zivilisation. Irgendwann gestattet der Wald erste Durch- und Aussichten auf den gesuchten Bergbauort. Ein weiteres Stück tiefer erreichen wir eine geschotterte Querstraße, die nach rechts die Möglichkeit eines Umwegs zu einer exponierten Bergwerksanlage und einem alten Stollen bietet. Zusätzliche Belohnung erwartet uns dort in Form eines umfassenden Überblicks der Lage. Der Aussichtspunkt wird, weil attraktiv, zu einer etwas längeren Pause ausgebaut. Ziemlich schwer zu ermessen, wer von uns glücklicher aussieht. Ziemlich schwer zu sagen, ob das Gute jetzt vorbei ist und das Schlechte anfängt. Oder doch umgekehrt. Ab sofort wird es erneut sehr zwiespältig und kontrastreich. Schon die in unaufhaltsamem Niedergang befindliche Anlage zieht uns mit herbem Charme in ihren Bann und wäre bestimmt der perfekte Drehort für den Showdown eines spannenden Krimis: Rostiges Eisen, fensterlose Leibungen, bröckelnder Putz, unromantische Liebesgraffiti im unteren Bereich der Fassade, daneben hängt, längst eingetrocknet, der Vorderlauf eines Rehs.
Die mächtigen Stützmauern, welche den Weg hinunter nach Cave del Predil sichern, bersten langsam unter dem Druck des Berges. Tiefe Risse und breite Löcher sind zuverlässige Vorboten, der Einsturz nur mehr eine Frage der Zeit. Vor der letzten Kurve treffen wir die erste Menschenseele, einen alten Mann in Begleitung eines Hundes. Am oberen Ortsrand empfängt uns ein verrottendes Gebäudeensemble, vermutlich eine alte Bergarbeitersiedlung, in der nur mehr Geister hausen. Bedrückend die Atmosphäre in den Ruinen, im morbiden Geruch aus Feuchtigkeit, Schimmel und morschem Holz wird ohne begleitenden Kommentar in Form alter Schuhe, brüchiger Bodenbeläge und verblichener Möbel der schnelle Untergang vermeintlich sicherer, weil traditioneller Standorte im globalen Wettbewerb vor Augen geführt. Passend dazu findet sich eine rostige Bierdose, die zur Fußball-WM 1990 auf den Markt geworfen und mutmaßlich während der Halbfinal-Niederlage der Italiener gegen Argentinien geleert wurde.
Die lange Periode des Bergbaues (geschürft wurde hier sehr wahrscheinlich schon seit der Römerzeit) in Cave del Predil fand 1991 ihr endgültiges Ende, als das Bergwerk mangels Rentabilität stillgelegt wurde. In der Folge sank die Einwohnerzahl von einstmals 2500 auf unter 400 und auch mit der örtlichen Infrastruktur ging es ähnlich steil bergab. Auf dem Weg ins Zentrum schlendern wir immerhin an ein paar Bauarbeitern vorbei, die offensichtlich nach dem Motto „Der Tiefbau stirbt zuletzt” neue Leitungen verlegen. Einige wenige Häuser überraschen mit frischen Farben und renovierten Portalen und erzeugen so fast einen heiteren Kontrast zu den ortsüblichen Grau- und Brauntönen. Ein Denkmal am Fuße des Bergwerks erinnert daran, dass an dieser Stelle einst das werkseigene Krankenhaus durch einen Grubeneinsturz auf Nimmerwiedersehen im Boden versank. Der Bergbau hat am Monte Re gewaltige Stollensysteme hinterlassen, deren Ausmaß man sich Anhand der riesigen Abraumhalden bildhaft vorstellen kann. Die ursprünglich geplante Revitalisierung als künftige Freizeitattraktion in Gestalt eines Schaubergwerks dürfte leider wenig Aussicht auf baldige Verwirklichung haben.
Über eine Holzbrücke wechseln wir über den Rio del Lago ins Ortszentrum. Dort warten eine mittelalterliche und eine nicht ganz so alte Kirche aus dem Jahre 1969 auf Gläubige, und das Museo della tradizione mineria auf zahlende Interessierte. Der Psychiater hat Mitleid und greift feixend ins Portemonnaie. Schon die einsame Museumsdirektorin als Dornröschen rechtfertigt den Eintrittspreis, leider scheitert tiefergehende Konversation bereits im Ansatz an unserem schlechten Italienisch und ihren nicht besseren Deutschversuchen.(Un)wichtige Informationen versanden in beiderseits halbherziger Zeichensprache. Im Eintrittspreis ebenfalls inbegriffen, und wie bereits in den Ruinen von Mogessa live und in Farbe erlebt: Dr. Eloquent und sein Faible für italienische Frauen – Zwischenmenschlichkeit auf allerallerhöchstem Niveau !!!! Jedenfalls studieren wir alte Fotos und Schautafeln mit erläuternden Begleittexten, zwängen uns auf eigene Faust und auf eigene Gefahr durch enge Pappmachestollen und beobachten ausrangierte Schaufensterpuppen in Knappenuniform bei ihrer harten Arbeit. Zum Abschied drückt die Direktorin nach kurzer wort-und gestenreicher Erläuterung ein paar Knöpfe und setzt damit die Maschinerie eines Miniatur-Schaubergwerks in Gang, welches auf rührende Weise, aber durchaus nachvollziehbar die Arbeitsabläufe veranschaulicht, die draußen in der Wirklichkeit wohl nicht mehr stattfinden werden.
Ausgestattet mit Hintergrundinformation und dem festen Vorsatz zur Flucht geht es zurück über den Fluss zum Ausgangspunkt im Bergwerksbereich. Kein Mensch auf der Straße. Hier feiert die Schwerkraft stille Triumphe, bessere Zeiten sind nicht in Sicht. Zwischen aufgelassenen Industrieanlagen und Lagerhallen bahnen wir uns durch das abwechselnde Ignorieren oder Akzeptieren von eindeutigen Verbotsschildern einen größtenteils illegalen Weg durch den wirtschaftlichen Niedergang und erreichen an dessen nördlicher Peripherie endlich die Abraumhalden, die sich, dem Rio del Lago folgend, an der Ostwand des Monte Re entlangziehen. Selbst dieser Teil der Wanderung überzeugt mit einer interessanten Mischung aus wilder Natur und trister Ästhetik aus Menschenhand, welche sich insbesondere in Gestalt zweier riesiger Betonmonumente (deren Zweck dem Auge des Betrachters und dem Großhirn des darüber Nachdenkenden allerdings völlig verborgen bleibt) manifestiert.
Letzte Rast mit letztem Proviant am Ende der Haldenlandschaft, dann folgen wir dem ungestümer werdenden Rio del Lago auf seinem Weg hinunter nach Riofreddo. Selbst die vermeintlich leichte Schlussetappe entpuppt sich sehr bald als genaues Gegenteil eines locker-flockigen Finales. Der schluchtartige Verlauf zwingt uns an diversen Hindernissen wie zB einem kleinen Wasserkraftwerk vorbei und der Abstieg zurück zum Fluss erfordert oftmalige Improvisation und erneut ungesetzliches Verhalten.
Am Ende präsentiert sich der Rio del Lago doch noch unverbaut, ursprünglich und ungebändigt. Ein wenig Tom Sawyer und Huckleberry Finn-Feeling kommt beim zweimaligen Überqueren des wilden Wassers über riesige Felsbrocken auf – viel zu plötzlich endet das Abenteuer in Riofreddo. Bienvenuti a Riofreddo.
Fazit: Wir haben bei der Umrundung des Monte Re viele Dinge gefunden, ohne sie tatsächlich gesucht zu haben und Dinge gesucht, von denen wir nie erwartet hätten, sie verlieren zu können. Für die direkte Erleuchtung mag es nicht gereicht haben, aber als der Wagen heimwärts rollt, kommt fast ein wenig Wehmut auf. Zu guter Letzt meldet sich auch noch Udo Lindenberg aus des Doktors Smartphone.
Die nächste Tour ist bereits in Planung.